Simonetta Sommaruga verteidigt Asylreform
«Es geht nicht darum, jemanden enteignen zu können»

Bundesrätin Simonetta Sommaruga verspricht im Interview, beim Bau von Asylzentren nicht gegen die Gemeinden und Kantone zu arbeiten. Zudem äussert sich die SP-Justizministerin zu den Panama Papers: Dass sogar das Rote Kreuz für Offshore-Geschäfte missbraucht worden sei, sei «eine Schande».
Publiziert: 17.04.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 04:32 Uhr
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SP-Frau Simonetta Sommaruga ist seit November 2010 Bundesrätin und leitet das Justiz- und Polizei­departement.
Foto: Valeriano Di Domenico
Joël Widmer, Sermin Faki

SonntagsBLICK: Nach dem Sieg gegen die Durchsetzungsinitiative stehen Sie bereits im nächsten Abstimmungskampf gegen die SVP. Sind Sie zuversichtlich, das Volk auch am 5. Juni auf Ihrer Seite zu haben?

Wenn es in der Asylpolitik einen gemeinsamen Nenner gibt, dann den, dass schnelle Verfahren besser sind als langsame. Genau das ist der Inhalt dieser Gesetzesvorlage: beschleunigte und konsequente, aber gleichzeitig faire und menschliche Asylverfahren.

Und Sie glauben, dass Sie die Bevölkerung damit überzeugen können?

Ja, denn die Vorlage entlastet die Kantone und Gemeinden. Sie wurde in enger Zusammenarbeit mit ihnen erarbeitet und hat auch im Parlament eine breite Mehrheit gefunden.

Dennoch herrscht im Land Verunsicherung, vor allem wegen der möglichen Enteignung von Land für den Bau von Asylzentren des Bundes.

Das ist ein sehr theoretisches Argument. In den letzten fünf Jahren haben Bund, Kantone und Gemeinden nie gegeneinander gearbeitet, sondern immer einvernehmliche Lösungen gesucht und gefunden. Die bereits gefundenen Standorte für die Bundeszentren haben die Kantone uns vorgeschlagen. Das zeigt: Wir arbeiten auch bei Asylzentren eng zusammen.

Warum steht der Enteignungs-Paragraf denn im Gesetz, wenn es ihn gar nicht braucht?

Bei dem vorgesehenen Plangenehmigungsverfahren geht es doch nicht darum, jemanden enteignen zu können. Sondern darum, die Asylzentren rasch bauen zu können. Kantone und Gemeinden haben nach wie vor ein Mitspracherecht. Sie können Beschwerde einlegen und rekurrieren. Aber es wird nicht mehr möglich sein, eine Baubewilligung über Jahre hinaus zu blockieren. Wenn wir schnellere Asylverfahren wollen, brauchen wir diese Zentren, in denen alle unter einem Dach sind: das Staatssekretariat für Migration, das die Verfahren durchführt, die Rechtsvertretung, die Rückkehrberatung, die Dolmetscher.

Können Sie versprechen, auf Enteignungen zu verzichten?

Nochmals, das ist ein theoretisches Argument. Es stimmt, dass das Verfahren als Ultima Ratio die Möglichkeit zur Enteignung vorsieht. Aber wir arbeiten in der Schweiz nicht so. Das Militär, das seit 20 Jahren die Möglichkeit hat, solche Enteignungen vorzunehmen, hat noch nie Gebrauch davon gemacht. Auch wir haben null Interesse, gegen einen Kanton oder eine Gemeinde zu entscheiden. Schliesslich müssen die Zentren von den Menschen, die dort wohnen, akzeptiert werden.

An einer Sitzung der Staatspolitischen Kommission sollen Sie erklärt haben, wenn die Enteignungsmöglichkeit des Bundes bei Asylzentren gestrichen werde, könne man die ganze Revision vergessen. Also doch kein theoretisches Argument!

Richtig ist, dass man die Revision vergessen kann, wenn man das Plangenehmigungsverfahren streicht. Denn dann riskiert man, dass ein einziger Beschwerdeführer den Bau eines Zentrums über Jahre hinaus verhindern kann.

Sie sagten auch schon, der Bund kenne das Plangenehmigungsverfahren auch für Atomanlagen. Kann man Asylzentren wirklich mit AKW vergleichen?

Natürlich nicht. Juristisch geht es jedoch um das gleiche Prinzip. Aber schauen Sie: 2013 hat die Bevölkerung mit 78 Prozent sogar dem bewilligungsfreien Bau von temporären Asylzentren zugestimmt, wenn es schnell gehen muss. Daher bin ich überzeugt: Die Bevölkerung weiss, dass gute Lösungen im Asylbereich entsprechende Strukturen brauchen.

Also muss jetzt kein Landwirt Angst haben, dass der Bund ihm Land wegnimmt?

Den Landwirt, der davor Angst hat, möchte ich erst sehen.

Dennoch: Die Reform ist doch eine Schönwettervorlage, ausgerichtet auf 24'000 Gesuche im Jahr. Eine Zahl, die schon heute deutlich übertroffen wird. Können Sie garantieren, dass das System auch funktioniert, wenn über Jahre je 40'000 Asylsuchende kommen?

Die 24'000 sind eine Planungsgrösse, die sich auf ein langjähriges Mittel abstützt, zudem ist das System schwankungstauglich. Aber Ihre Frage zeigt ja gerade: Wenn über Jahre viele Asylsuchende kommen, dann ist es noch wichtiger, dass die Verfahren schnell sind und nicht jahrelang dauern.

Wann stösst das System an seine Grenzen?

Wir haben gerade eben eine Notfallplanung mit Gemeinden und Kantonen verabschiedet für den Fall, dass wir in einem kurzen Zeitraum sehr viele Gesuche bewältigen müssten. Auch da gilt: Wenn wir die richtigen Strukturen haben, können wir rascher als heute entscheiden. Beispielsweise bei den Dublin-Verfahren: Wenn wir diese schnell entscheiden, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass wir die Person auch in einen anderen europäischen Staat zurückschicken können, weil dann keine Fristen ablaufen.

Die Reform erntet nicht nur Kritik von der SVP, auch von Linken weht der «Verschärfungsvorlage» ein rauer Wind entgegen. Hand aufs Herz: Geht das Gesetz Ihnen persönlich nicht auch zu weit?

Manche Linke sind mit dem neuen Gesetz tatsächlich nicht wunschlos glücklich. Aber auch links hat man erkannt, dass das Gesetz wichtige Verbesserungen für Schutzbedürftige bringt. Es stimmt, die Fristen sind sehr kurz. Die Beschleunigung ist in meinen Augen aber keine Verschärfung. Denn wer als Flüchtling anerkannt wird, kann sich künftig auch schneller integrieren. Wir haben mit dem unentgeltlichen Rechtsschutz zudem dafür gesorgt, dass die Verfahren dennoch fair sind.

Warum soll ein Asylsuchender einen kostenlosen Rechtsanwalt bekommen?

Ganz einfach, weil ohne Rechtsschutz die Beschleunigung nicht funktioniert. Wenn Sie so schnell Entscheide fällen, müssen diese von guter Qualität sein. Sonst landen viele vor Gericht. Wenn das Gericht den Entscheid nicht stützt, haben Sie am Ende noch längere Verfahren. Im Übrigen gibt es den kostenlosen Rechtsschutz heute schon. Nur ist er einfach teurer. Wir haben im Testzentrum Zürich bewiesen, dass die Verfahren fair sind. Die Beschwerdequote dort ist tiefer als im Normalbetrieb. Und auch die Kosten sind übrigens deutlich gesunken.

Es gibt die Kritik, dass die Auswahl der Asylsuchenden für das Testzentrum nicht ganz sauber gewesen ist, so dass Sie die Ergebnisse verbessern konnten.

Das ist nun wirklich ein sehr erfinderischer Vorwurf. Die Leute wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt – mit einer Ausnahme: Im Sommer haben wir weniger Eritreer genommen, weil wir nicht ausreichend Dolmetscher hatten. Das hat die Ergebnisse aber nicht verfälscht, im Gegenteil: Ohne diese Ausnahme wäre die Bilanz noch besser gewesen.

Treten wir einen Schritt zurück und sprechen über die Flüchtlingslage in Europa: Ist das Abkommen mit der Türkei der richtige Weg?

Das Abkommen mit der Türkei enthält einige gute Elemente. Es gibt aber noch Fragen bei der Umsetzung sowie rechtliche Hürden. Für mich ist bei der Bewertung des Deals letztlich ausschlaggebend, ob damit menschliches Leid verringert wurde oder nicht.

Was befürchten Sie?

Das kann man noch nicht sagen. Aber was beschlossen wurde, muss in der Praxis auch menschenwürdig umgesetzt werden. Es ist der Versuch einer Zusammenarbeit, aber es wird die EU nicht davon befreien, nun eine gemeinsame und solidarische Asylpolitik zu entwickeln.

In diesen Wochen kommen wieder mehr Flüchtlinge aus Libyen übers Mittelmeer. Wird Italien diese auch durchwinken wie Griechenland?

Es gibt heute sehr viel Druck auf Italien, die Flüchtlinge zu registrieren. Auch aus Sicherheitsgründen. Wir müssen wissen, wer sich auf europäischem Boden befindet. Italien bemüht sich sichtlich, die Registrierungsquote ist klar gestiegen. Es ist nicht mehr die gleiche Situation wie vor zwei Jahren. Die EU ist aber auch bereit, Italien zu entlasten.

Was halten Sie vom Nachbarn Österreich, der am Brenner Grenzzäune errichtet und versucht, eine Obergrenze durchzusetzen?

Österreich hatte im letzten Jahr doppelt so viele Asylgesuche wie die Schweiz. Es gab schwierige Situationen. Einiges ist aber auch politische Rhetorik: Wenn man genau hinschaut, wird vieles, was angekündigt wird, gar nicht eins zu eins umgesetzt. Aber ich war mit meiner Kollegin beim kürzlichen Besuch in Wien einig: Es gibt keine nationalen Lösungen. Das verschiebt nur das Problem.

Wird der Brenner geschlossen, werde die Schweiz zum einzigen Nadelöhr für die Migranten nach Nordeuropa, sagt der Tessiner Staatsrat Norman Gobbi. Hat er recht?

Wenn einzelne Staaten für sich Massnahmen ergreifen, verlagern sie das Problem, aber sie lösen es nicht. Es muss auch für Österreich klar sein: Es gibt nur eine gemeinsame und solidarische europäische Politik. Alle EU-Länder müssen ihre Verantwortung wahrnehmen.

Die kantonalen Polizeidirektoren fordern, dass man auch Begrenzungsmassnahmen an der Grenze prüft. Sollte auch die Schweiz wie Österreich eine Obergrenze festlegen?

Die Obergrenze ist gemäss Österreich letztlich ein Signal, dass alle europäischen Staaten solidarisch mithelfen sollten. Wir haben uns nun mit Kantonen, Städten und Gemeinden auf einen Notfallplan geeinigt. Obwohl die Zahl der Asylgesuche in den letzten Monaten sank, müssen wir vorbereitet sein. Auch der Bundesrat diskutiert die Situation an der Grenze regelmässig. Wir haben ein Interesse an offenen Grenzen im Schengen-Raum. Offene Grenzen sind eine Errungenschaft. Aber gleichzeitig müssen wir wissen, wer sich auf unserem Gebiet aufhält. Das ist die Aufgabe des Grenzwachtkorps.

Als letzte Möglichkeit sollen auch Milizsoldaten an die Grenze: Wofür werden sie eingesetzt, werden sie bewaffnet sein?

Das Grenzwachtkorps muss sagen, wofür es die Armee im Notfall einsetzen will. Entscheiden wird letztlich der Bundesrat.

Durch die Migration stellen sich auch neue Probleme. Sie haben kürzlich die Verweigerung des Handschlags durch muslimische Schüler in Therwil kritisiert. Wie waren die Reaktionen?

Ich erhielt sehr viele positive Reaktionen – auch von Muslimen. Für die ganz grosse Mehrheit der Muslime in der Schweiz ist das Zusammenleben absolut problemlos. Und wenn verschiedene Kulturen und Religionen zusammenkommen, kann es immer zu Spannungen kommen. In diesem Fall wurde aber eine Grenze überschritten. Es geht nicht, dass Kinder der Lehrerin die Hand nicht geben.

Warum?

Weil das bei uns so üblich ist. Es geht auch um Höflichkeit. Wenn man sich in unserer Kultur den Handschlag verweigert, heisst das, dass man einen Konflikt hat oder etwas nicht in Ordnung ist. Ich bin für eine offene, freiheitliche, tolerante Gesellschaft. Es gibt aber Grenzen, die man akzeptieren muss. Ein Handschlag – so viel Anpassung muss möglich sein.

Wie setzen wir unsere Werte und Regeln am besten durch?

Es geht nicht um durchsetzen, sondern um ein Zusammenleben. Man muss darum ringen. Man muss auch keine Überanpassung verlangen. Und das gelingt uns ja in der Schweiz auch sehr gut. Es gibt in der Schweiz fast keine Ghettobildung. Die wichtigste Integrationsarbeit leisten in der Schweiz die Schulen, die Vereine, die Gemeinden und die Städte. Und: Integration erfolgt sehr stark über die Arbeit.

Apropos Werte und Regeln: Was halten Sie von der Ermächtigung der deutschen Regierung zum Strafverfahren gegen den Satiriker Jan Böhmermann?

Es gibt juristische Fragen. Und es gibt beim Humor immer auch die Frage des Geschmacks. Darüber kann man sich streiten. Persönlich bin ich der Meinung, dass man beim Humor die Grenzen weit stecken soll. In einer offenen Gesellschaft muss vieles möglich sein. Aber das Recht gibt auch Schranken vor, die in Deutschland nun überprüft werden.

Den Paragrafen der Beleidigung eines fremden Staates kennen wir auch in der Schweiz. Ist er nötig?

Sagen wir es so: Ich bin froh, dass er in der Schweiz fast nie angewendet wurde.

Kommen wir zu einem ganz anderen Thema, das Sie als Justizministerin interessieren muss. Die Recherchen zu den Panama Papers zeigen eindrücklich, wie mit Briefkastenfirmen die Herkunft von Geldern verschleiert wird. Was halten Sie von solchen Offshore-Firmen?

Ich bin kein missgünstiger Mensch. Aber ich ärgere mich über jeden Reichen, der seine Steuern nicht in der Schweiz zahlt. Ich bin enttäuscht, dass man trotz Finanzkrisen keinen Kulturwandel feststellen kann – im Gegenteil. Die Finanzmarktaufsicht Finma hat kürzlich festgestellt, dass das Risiko der Geldwäscherei zugenommen hat. Und zwar geht es um schwere Korruptionsfälle. Und das finde ich höchst beunruhigend.

Von wem sind Sie enttäuscht?

Von Leuten, die nicht begriffen haben, dass Korruption und Steuerbetrug keine Kavaliersdelikte sind. Und von jenen, die mithelfen, dass solche Delikte stattfinden. Die Aufdeckung um die Panama Papers hat gezeigt, dass dies noch sehr verbreitet ist.

Die «Sonntagszeitung» hat aufgezeigt, dass sogar das Rote Kreuz zur Verschleierung missbraucht wurde.

Das ist eine Schande. Man versucht, Leute mit einer Organisation, die eine hohe Glaubwürdigkeit hat, in die Irre zu führen. Das zeigt, wie skrupellos das Geschäft mit Offshore-Firmen zum Teil ist.

Sehen Sie Handlungsbedarf – zum Beispiel bei Anwälten, die ja dem Geldwäschereigesetz nur zum Teil unterstellt sind?

Die Ausgangslage hierzulande ist klar: Wenn sie nur beratend tätig sind, sind Anwälte dem Gesetz nicht unterstellt. Wenn die Geldwäscherei zunimmt, haben wir aber ein Reputationsrisiko. Man muss gut analysieren, inwiefern der Schweizer Finanzplatz für Geldwäscherei genutzt wird. Ob Handlungsbedarf besteht, kann ich noch nicht sagen. Aber Sie können sicher sein, dass wir das genau prüfen.

Ihr Bundesratskollege Ueli Maurer findet, man müsse die Möglichkeit solcher Offshore-Geschäfte für Superreiche schaffen.

Hat er das genau so gesagt? Wie dem auch sei: So überraschend wäre es ja nicht, wenn Bundesrat Maurer und ich in solchen Fragen nicht ganz genau die gleiche Meinung hätten.

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