«Bevölkerung muss die Massnahmen verstehen»
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Sommaruga im grossen Interview:«Bevölkerung muss die Massnahmen verstehen»

Simonetta Sommaruga erklärt, warum der Bundesrat bei den Corona-Massnahmen zögerte
«Die Signale waren keinesfalls eindeutig»

Die Schweiz gehört derzeit zu den Ländern mit den meisten Corona-Toten pro Einwohner. Bundespräsidentin Sommaruga erklärt, was in den letzten Monaten hinter den Kulissen ablief.
Publiziert: 29.11.2020 um 00:46 Uhr
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Aktualisiert: 30.11.2020 um 15:14 Uhr
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Normalerweise beschränkt sich die Rolle der Bundespräsidentin darauf, die Bundesratssitzungen zu leiten.
Foto: keystone-sda.ch
Camilla Alabor und Simon Marti

Ein Land, das wankt. Vor Angst, Wut, Verun­sicherung, Müdigkeit. Kaum ein Jahr hat die Schweiz in jüngster Zeit so durchgeschüttelt wie das ­aktuelle. Und kaum ein Jahr hat der Bevölkerung die Regierung so nahe gebracht, im Guten wie im Schlechten.

Die Bundes­räte, die für den Normalbürger sonst eher als Randfiguren in den Nachrichten auftauchen, stehen auf einmal im Auge des Sturms. In ihrer Mitte: die Bundespräsidentin. Jene Person, deren Rolle sich zu normalen Zeiten da­rauf beschränkt, die Sitzungen der Regierung zu leiten.

Doch die Zeiten sind nicht normal. Plötzlich fällt Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (60) die Auf­gabe zu, das Land durch die Krise zu führen. Den Bundesrat zusammenzuhalten. Die Kantone miteinzubeziehen. Und, im ganzen Prozess, die Bevölkerung nicht zu verlieren. Im Gespräch mit SonntagsBlick gewährt sie einen Blick hinter die Kulissen und auf die Kämpfe, die sich über die letzten Monate dort abgespielt haben.

Eine Analyse in fünf Etappen.

Das Aufatmen

Am 19. Juni erklärt der Bundesrat die ausserordentliche Lage für beendet. Auf die ­gespenstischen Lockdown-Monate folgt ein relativ unbeschwerter Sommer: Die Sonne scheint, die Badis sind voll, die Berggipfel überlaufen. Ausländische Besucher wundern sich über die Lockerheit im Land. Die Zahlen belaufen sich auf 30, 140, 70 Corona-Fälle pro Tag.

Derweil scheinen die Kantone, die nun in der Verantwortung stehen, den Ernst der Lage nicht alle zu erkennen. Graubünden etwa will sich für die Ausarbeitung ­eines Konzepts für die zweite Welle bis Ende August Zeit lassen. Auch funktioniert das Contact Tracing schon im Sommer mehr schlecht als recht, vom positiven Test­ergebnis bis zur Kontakt­aufnahme durch die Behörden vergehen oft mehrere Tage. Von Fällen, die gar nicht erst gemeldet werden, ist die Rede.

Frau Sommaruga, hat der Bundesrat während der Sommermonate die Zügel zu sehr schleifen lassen?
Simonetta Sommaruga: «Ich fragte die Kantone im Sommer ganz bewusst, ob sie mit dem Contact Tracing auf Kurs sind. Ihre Antwort: Wir sind dran. In dieser Phase hat sich der Bundesrat ­darauf verlassen, dass die Kantone ihre Verantwortung übernehmen. Auch weil sie dies zuvor eindringlich gefordert hatten. Wir waren mit den Kantonsregierungen aber in ständigem Kontakt.»

Tatsächlich hat die harsche Kritik der Kantone, die Regierung habe sie während des Lockdowns aussen vor gelassen, beim Bundesrat Spuren hinterlassen. Was sich noch Monate später ­zeigen wird, als der Bundesrat im Herbst zögert, griffige Massnahmen zu erlassen. Sommaruga macht kein Geheimnis daraus: Ebenso wie die Schweizer Bevöl­kerung zählte auch der Bundesrat darauf, dass die Kantone den Sommer zur Vorbereitung auf die zweite Welle nutzen. Das hat ganz offensichtlich nicht geklappt.

Warum haben sich die Kantone nicht besser gegen eine zweite Welle gewappnet?
Sommaruga: «Es gibt nicht nur im Bundesrat, sondern auch in den Kantonsregierungen unterschiedliche Meinungen. Jene, die schneller vorwärtsmachen oder Mittel ins Contact Tracing investieren wollen. Und jene, die dagegen halten. Zudem stellt sich immer die Frage: Wer macht den ersten Schritt? Vielleicht haben wir unterschätzt, wie schwierig es für eine Kantonsregierung ist, Massnahmen zu verhängen, wenn im Nachbarkanton ­alles seinen gewohnten Lauf nimmt. Dann geht die Bevölkerung womöglich dort ins Restaurant, während man selber den wirtschaftlichen Schaden trägt.»

Erste Warnzeichen

Im August steigen die Fallzahlen langsam, aber sicher wieder an, erreichen Höchstwerte von bis zu 383 Fällen pro Tag. Noch während die Schweiz die lauen Sommerabende geniesst, läuten bei der Bundes­präsidentin die Alarm­glocken. Nicht so sehr der Fallzahlen wegen, sondern weil sie merkt: Zwischen Bund und Kantonen, aber auch unter den Kantonen selbst herrscht Uneinigkeit im Hinblick auf das weitere Vorgehen.

Exemplarisch zeigt sich das bei der Frage, ob Grossveranstaltungen wieder erlaubt werden sollen.

Was war das Problem bei den Grossanlässen?
Sommaruga: «Die Kantone gelangten mit unterschiedlichen Einschätzungen an uns. Von den Gesundheitsdirektoren erhielten wir die Meldung, mit der Erlaubnis für Grossveranstaltungen bis Weihnachten zu warten. Derweil drängten die Volkswirtschaftsdirektoren da­rauf vorwärtszumachen. Auf dieser Basis musste der Bundesrat entscheiden – das geht natürlich nicht.»

Aufgrund dieser Erfahrungen lädt die Bundes­präsidentin die Vertreter der Kantonsregierungen ­sowie der Gesundheits- und Volkswirtschaftsdirektoren am 18. August zu einer Aussprache nach Bern ein: «Damit es beim nächsten Mal besser läuft.»

Wenige Tage zuvor hatte der Bundesrat beschlossen, Grossanlässe – zumindest unter gewissen Bedingungen – wieder zuzulassen. War ihr angesichts der steigenden Fallzahlen wohl bei diesem Entscheid? Sommaruga lässt die Frage offen. «Meine Rolle war es, einen Entscheid zu finden, hinter dem möglichst der gesamte Bundesrat stehen konnte», sagt sie diplomatisch.

Die Fallzahlen explodieren

Inzwischen ist es September, die Zahlen liegen mal bei 405, mal bei 530 Fällen. Die Kurve zeigt nach oben, doch nicht einmal die Experten mögen von einer zweiten Welle sprechen. Im Gegenteil: Epidemiologe Marcel Salathé sagt am 27. September, es sehe gerade «richtig, richtig gut aus».

Zwei Wochen später ist ­alles anders: Am Mittwoch, 7. Oktober, meldet das Bundesamt für Gesundheit zum ersten Mal seit März über 1000 Fälle innerhalb von 24 Stunden. Zwei Tage später sind es rund 1500 Fälle, am 14. Oktober bereits 2800.

Die Nervosität in der Bevölkerung steigt, der Druck auf den Bundesrat nimmt zu: Warum tut die Regierung nichts? Frage an die Bundespräsidentin:

Warum hat der Bundesrat so lange gewartet, um Massnahmen zu ergreifen?
Sommaruga: «Ich notierte in meinem Notizheft bereits Anfang Oktober: Der Bund muss wieder präsenter werden. Doch die Signale aus den Kantonen waren keineswegs eindeutig. Einzelne Stimmen forderten, der Bundesrat müsse wieder übernehmen. Aber das fanden damals die meisten Kantone übertrieben, da sie von den Ansteckungen sehr unterschiedlich betroffen waren und ihre Zuständigkeiten behalten wollten.»

Wenig später haben Sie dennoch durchgegriffen.
Sommaruga:
«Der Wendepunkt war für mich der Freitag, 9. Oktober, als die Zahlen emporschnellten (die erwähnten 1500 Fälle; Anm. d. Red.). Da habe ich meine Bundesratskollegen Alain Berset und Guy Parmelin angerufen und gesagt: So geht es nicht weiter. Wir müssen die Kantone an den Tisch holen.»

Gesagt, getan. Zumindest so rasch, wie es der Föderalismus zulässt: Am Donnerstag der Folgewoche findet der Krisengipfel zwischen Bund und Kantonen statt; am Freitag einigen sich die Gesundheitsdirektoren auf Massnahmen, die der Bund landesweit einheitlich regeln kann. Am Sonntag, 18. Oktober tagt der Bundesrat an einer Sondersitzung.

Es folgt das erste Mass­nahmenpaket: Homeoffice-Empfehlung, Maskenpflicht in Cafés und Bahnhöfen, eine Limite von 15 Personen bei Treffen mit Freunden und Familie.

Die Lage beruhigt sich – ein wenig

In den Folgetagen sinkt die Mobilität. Die Fallzahlen hingegen steigen die nächsten zwei Wochen weiter, bis sich Anfang November eine Trendwende abzeichnet.

Über die Einschränkungen vom 18. Oktober sagt Sommaruga: «Das waren Massnahmen, die es dringend gebraucht hat, bevor es zu spät war. In einer solchen Situation zählt jeder Tag.»

Ihr sei es ein Anliegen ­gewesen, einen zweiten Lockdown zu verhindern, erinnert sich die Bundespräsidentin an diese tur­bulente Zeit. «Zudem ist seither für alle klar: In der besonderen Lage können die Kantone die Verant­wortung nicht dem Bund zuschieben, wenn es schwierig wird. Umgekehrt darf auch der Bund die Kantone nicht völlig alleinelassen.» Stand heute, zieht Sommaruga ein positives Fazit: «Ich glaube, wir haben den Rank gefunden.»

Allerdings ist der Preis dafür, die Kurve erst Mitte Oktober gekriegt zu haben, hoch: Auf die zweite Welle bezogen, gehört die Schweiz zu den Ländern mit den meisten Corona-Toten pro Einwohner.

Hat der Bundesrat – angesichts der hohen Todeszahlen – zu spät gehandelt?
Sommaruga: «Wir werden die Gründe dafür sorgfältig analysieren müssen. Was ich sagen kann: Es ist immer ein Zusammenspiel zwischen Bundesrat und Kantonen. Ein schwieriges zuweilen. Meine Initiative zielte da­rauf, dieses Zusammenspiel zu verbessern.»

Hinzu komme ein weiterer Punkt, sagt die SP-Magistratin: Die politischen Entscheide seien immer auch ein Abbild der Bevölkerung. «Vielleicht hat eine gewisse Pandemiemüdigkeit dazu beigetragen, dass es länger gedauert hat als im Frühling, bis die Politik reagierte.»

Tatsächlich scheint in der Bevölkerung ein zweiter Lockdown derzeit kaum mehrheitsfähig – der hohen Todeszahlen zum Trotz. Die Frage stellt sich:

Warum sorgt die hohe Anzahl an Covid-Opfern hierzulande nicht für mehr Diskussionen?
Sommaruga: «Mich beschäftigen die vielen Todesopfer sehr. Ich habe auch verlangt, dass wir das Thema im Bundesrat diskutieren, und die Gründe, wie gesagt, analysieren lassen. Wir nehmen das keinesfalls einfach hin.»

Diese Aufarbeitung steht noch aus

Dennoch lassen sich einige Elemente festmachen, die zu den hohen Todeszahlen beigetragen haben dürften: die Verwischung der Kompetenzen in einem föde­ralistischen System, die ­Zurückhaltung des Bundesrats angesichts der früheren Kritik der Kantone, die Angst der Kantone vor unpopulären Entscheiden und finanziellen Einbussen. Und vielleicht: eine Re­gierung, die in ihren Entscheiden tatsächlich näher bei den Bürgern ist als ­anderswo.

Im Guten wie im Schlechten.

Task Force sorgt für Diskussionen im Bundesrat

Einzelne Mitglieder der ­wissenschaftlichen Taskforce machen regelmässig forsche Statements in den ­sozialen Medien – und ­ziehen damit den ­Unmut von Politikern auf sich, die mehr Zurück­haltung fordern. Noch grundsätz­licher äusserte sich jüngst ­Finanzminister Ueli Maurer, als er in einem Seitenhieb gegen die Taskforce eine übertriebene «Expertengläubigkeit» konstatierte. Bundespräsidentin Sommaruga sieht das anders. «Die wissenschaftliche Erkenntnis ist wichtig», sagt sie.

Dennoch gelte es, die Rolle der Taskforce genauer anzuschauen: «Berät sie den Bundesrat? Informiert sie die Öffentlichkeit? Schlägt sie Massnahmen vor?» Niemand wolle der Wissenschaft einen Maulkorb verpassen, hält Sommaruga fest. «Für den Bundesrat ist diese Beratung wichtig. Doch wenn sie ­unkoordiniert halb intern, halb in der Öffentlichkeit erfolgt, sorgt das bei der Bevölkerung für Verwirrung.» Sicher ist also nur: Auch im Bundesrat dürfte die Taskforce noch zu ­reden geben.

Einzelne Mitglieder der ­wissenschaftlichen Taskforce machen regelmässig forsche Statements in den ­sozialen Medien – und ­ziehen damit den ­Unmut von Politikern auf sich, die mehr Zurück­haltung fordern. Noch grundsätz­licher äusserte sich jüngst ­Finanzminister Ueli Maurer, als er in einem Seitenhieb gegen die Taskforce eine übertriebene «Expertengläubigkeit» konstatierte. Bundespräsidentin Sommaruga sieht das anders. «Die wissenschaftliche Erkenntnis ist wichtig», sagt sie.

Dennoch gelte es, die Rolle der Taskforce genauer anzuschauen: «Berät sie den Bundesrat? Informiert sie die Öffentlichkeit? Schlägt sie Massnahmen vor?» Niemand wolle der Wissenschaft einen Maulkorb verpassen, hält Sommaruga fest. «Für den Bundesrat ist diese Beratung wichtig. Doch wenn sie ­unkoordiniert halb intern, halb in der Öffentlichkeit erfolgt, sorgt das bei der Bevölkerung für Verwirrung.» Sicher ist also nur: Auch im Bundesrat dürfte die Taskforce noch zu ­reden geben.

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