Die Schweiz ist gespalten, der Graben zwischen Volk und Wirtschafts- sowie Politelite tief. Das zeigte das wuchtige Nein zur Unternehmenssteuerreform III vom Sonntag. Der Mittelstand scheint das Vertrauen in «die in Bern oben» verloren zu haben. BLICK baut nun Brücken. Und bringt die beiden Seiten an einen Tisch.
Gestern stellte sich Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer (57) am ersten Bürgergespräch den kritischen Fragen von BLICK-Lesern – rund 50 hatten sich beworben, darunter leider keine einzige Frau. Der Chef des mächtigsten Wirtschaftsverbands der Schweiz musste nach dem Abstimmungsdebakel besonders viel Kritik einstecken. Viele sehen in ihm den Hauptschuldigen am wuchtigen Nein.
«Schreckensszenarien bei einem Nein wenig glaubwürdig»
Wer deswegen einen geknickten Karrer erwartet hatte, der irrte. Er empfängt die BLICK-Leser in aufgeräumter Stimmung am Economiesuisse-Sitz in Zürich. Er stellt sich offen und selbstkritisch den Fragen der von Christian Dorer (41), Chefredaktor der Blick-Gruppe, moderierten Gesprächsrunde.
Die Vorlage sei viel zu komplex gewesen, kritisiert Pascal Praudisch (48). «Viele waren damit hoffnungslos überfordert. Man muss derart wichtige Themen einfacher vermitteln, sonst erreicht man die Bürger nicht mehr. Zudem waren Ihre Schreckensszenarien bei einem Nein wenig glaubwürdig.» Ein harter Vorwurf.
Karrer gibt zu: «Wir hätten die Konsequenzen eines Neins differenzierter darlegen müssen und haben bei der komplexen Vorlage vieles zu wenig verständlich herübergebracht.»
Karrer fordert Engagement der Wirtschaftsführer
Um das ramponierte Vertrauen in die Wirtschaft wieder zu stärken, nimmt Karrer die Unternehmer in die Pflicht. Früher habe das Volk grossen Wirtschaftsführern vertraut, weil sie auch politisch tätig waren. «Peter Spuhler war einer der Letzten», so Karrer. Heute seien solche Doppelmandate kaum mehr zu stemmen.
Deshalb müssten nun vermehrt Wirtschaftsvertreter in die Hosen. Karrers Vorschlag: «Wenn 50'000 Unternehmer an einem Tag pro Jahr das Gespräch mit der Bevölkerung suchen würden, könnten wir viel erreichen.»
Richard Fischer will wissen, ob sich Karrer überhaupt in die Lage eines Vaters versetzen könne, der seine Familie mit monatlich 6000 Franken durchbringen muss. Karrer bestreitet, dass er die Bodenhaftung verloren habe. Er lebe mit seiner Familie auf dem Land. «Mit Kindern haben sie automatisch Kontakt mit den verschiedensten Leuten. Und in der Freizeit suche ich das ganz bewusst.»
«Die Demokratie ist in Gefahr»
45 Prozent der Chefs der grössten Schweizer Firmen stammen aus dem Ausland. Laut Karrer kümmern sich diese weniger um den Austausch mit dem Volk. «Die gesellschaftliche Verbundenheit muss man aber leben, sich aktiv um einen Dialog bemühen», sagt er. Seine Aufforderung: «Sprechen Sie Manager auf der Strasse an!»
Unter den Nägeln brennt den BLICK-Lesern auch das Verhältnis zu Europa. Für Tobias Anliker (36) etwa ist klar: «Die Demokratie ist in Gefahr, weil wir unter Druck der EU stehen.» Brüssel nehme den Volkswillen – etwa das Nein zur Unternehmenssteuerreform III – nicht ernst. Karrer bleibt gelassen. Man müsse nun «zügig, aber nicht überhastet» eine neue Vorlage ausarbeiten.
Der direkte Austausch zwischen Bürgern und der Elite scheint einem grossen Bedürfnis zu entsprechen. Die Diskussionen mit Heinz Karrer wurden intensiv weitergeführt, als die vereinbarte Zeit schon längst abgelaufen war.