Sie gehen nicht an die Urne und bestimmen so unsere Zukunft
Nicht-Wähler haben die Macht

Seit 100 Jahren nimmt die Wahlbeteiligung in der Schweiz fast stetig ab. Warum das so ist, haben Forscher nun untersucht.
Publiziert: 13.10.2015 um 16:54 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 02:56 Uhr
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Der Saturierte: «Politik? Die machen das doch prima in Bern!»
Foto: Igor Kravarik
Von René Lüchinger

Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine, hiess es noch im Kalten Krieg. Heute ist die einst stolze Armee nur noch ein Schatten ihrer selbst – oft genug dazu verdammt, im Parlament fast um Geld zu betteln, um die Landesverteidigung zu finanzieren. Es ist der Niedergang einer einstigen Säule der Nation.

Und dort, in Bern, bröckelt längst die nächste Säule der Nation. Während die Politiker landauf, landab das direkt-demokratische System gewissermassen als Lebenselixier der Schweiz lobpreisen, ist dieses Bild längst zur Farce verkommen. Jeder zweite Wahlberechtigte im Land zeigt nämlich inzwischen kein Interesse mehr mitzubestimmen, wer für die nächsten vier Jahre im Schweizer National- oder Ständerat sitzen soll.

Vor fast hundert Jahren, 1919 bei der Einführung der Proporzwahl, pilgerten bei der Nationalratswahl noch über 80 Prozent an die Wahlurne! Dass die Partei der Nichtwähler ausgerechnet gegen Ende des Kalten Krieges zur Mehrheitspartei wurde (siehe Grafik), kommt wohl nicht von ungefähr. Die abnehmende aussenpolitische Bedrohung führte wohl zu einer schrumpfenden Identifikation mit den staatstragenden Parteien.

Nichts deutet darauf hin, dass sich dieser Trend umkehren liesse. Forscher der Universität Bern haben kürzlich eruiert, wessen Geistes Kind diese Nichtwähler sind. Es sind mehrheitlich Exponenten einer sich immer stärker individualisierenden Gesellschaft.

Da ist etwa der besserverdienende Saturierte, der seine Zeit lieber anders verbringt, als sich über Politik den Kopf zu zerbrechen. Oder der Aktivist, der lieber an Demos geht als an die Urne; der Frustrierte, der das Wahllokal meidet wie der Teufel das Weihwasser. Dann gibt es noch die, die für Parteien wohl noch nie erreichbar waren: Politik-Ignoranten und Randständige.

Vordergründig ist dies für Parteien eine komfortable Si-tuation. Je weniger Wähler an die Urne gehen, desto weniger Stimmen sind nötig für ein Mandat. In Wahrheit bedeutet die Abstinenz jedoch ein Misstrauensvotum an ebendiese Parteien. 

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