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Sex ohne Einwilligung soll als Vergewaltigung gelten
Opferhilfe will neues Sexualstrafrecht

Unser Sexualstrafrecht sei veraltet, kritisieren Opferhilfestellen und fordern eine Revision. Konkret: Es brauche eine gegenseitige Einwilligung. In anderen europäischen Ländern ist das Prinzip des gegenseitigen Einverständnisses bereits Realität.
Publiziert: 05.09.2019 um 06:36 Uhr
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Aktualisiert: 05.09.2019 um 09:05 Uhr
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Fachleute der Opferhilfe fordern umfassende Reform des Sexualstrafrechts.
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Alexandra Fitz

Bis ein Übergriff als sexuelle Gewalt angesehen und angemessen bestraft wird, braucht es in der Schweiz viel. Zu viel, sagen Opferhilfestellen aus der Schweiz. Das Sexualstrafrecht in der Schweiz sei veraltet und bedürfe einer Revision, schreibt das Nationale Fachgremium sexuelle Gewalt an Frauen in einer aktuellen Medienmitteilung. «Der heutige Vergewaltigungstatbestand geht von einem stereotypen Sexualdelikt aus, das in keiner Weise der Realität von sexuellen Übergriffen entspricht», heisst es darin. Agota Lavoyer von der Berner Opferhilfe Lantana konkretisiert: «Die Täter sind selten Fremde und müssen oft keine Gewalt ausüben, da die Frau aus Überforderung oder Angst keine Gegenwehr leistet.» Nach aktuellem Gesetz muss der Täter physische oder psychische Gewalt anwenden oder sie androhen. Ansonsten wird die Tat nicht als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung bestraft.

Die Forderung des Gremiums: Sex ohne Einwilligung soll als Vergewaltigung gelten. Es braucht eine gegenseitige Einwilligung. Nach dem sogenannten Konsensprinzip, das diverse europäische Länder in den letzten Jahren eingeführt haben, ist es ausreichend, wenn eine Frau Nein sagt, weint oder anders kundtut, dass sie mit den sexuellen Handlungen nicht einverstanden ist. Das ist das «Nein heisst Nein»-Prinzip. Der Grundsatz wird in Deutschland seit November 2016 angewendet, seither kommt es vermehrt zu Anzeigen und folglich auch zu mehr Verurteilungen. 

Mehr Anzeigen durch neues Gesetz

Das wünscht man sich auch in der Schweiz. Gemäss der Opferhilfe Lantana aus Bern gibt es jährlich viel mehr Fälle von sexueller Nötigung und Vergewaltigung als tatsächlich Anzeigen. Durch die neue Gesetzgebung würden Frauen bestätigt bekommen, dass ihnen Unrecht widerfahren ist, und es würde dazu führen, dass sie vermehrt Anzeige erstatten. 

Die «Ja heisst Ja»-Regel, die etwa in Schweden angewendet wird, geht noch weiter. In der Mitteilung heisst es: «Mit einer ‹Ja heisst Ja›-Regel würde auch den Momenten Rechnung getragen, in denen ein Opfer nicht in der Lage ist, Nein zu sagen; sei es aus Überforderung, aus Angst um Leib und Leben oder wegen eines Machtgefälles.» Nach einer Reform müsste die Frau im Idealfall bei den Einvernahmen nicht mehr ihr Verhalten rechtfertigen und erklären, warum sie sich nicht gewehrt habe. Das geltende Recht zementiere Vergewaltigungsmythen, indem es das Opferverhalten in den Fokus nehme, anstatt sich darauf zu konzentrieren, ob eine beidseitige Einwilligung vorgelegen hat. Dadurch würden nämlich die Opfer abgewertet werden. Dies halte viele Frauen im Vornherein davon ab, Anzeige zu erstatten. 

«Ich bin überzeugt, dass für die allermeisten Schweizer und Schweizerinnen gegenseitiges Einvernehmen im Sexualleben bereits jetzt eine Selbstverständlichkeit ist. Das muss auch unser Gesetz widerspiegeln», sagt Agota Lavoyer von der Opferhilfe Lantana. Da brauche es keinen Vertrag und keinen Notar. «Konsens ist der Unterschied zwischen Sex und Gewalt», heisst es auf den Plakaten des Gremiums. 

6413 Mal wurde 2018 eine Opferhilfestelle wegen Sexualdelikten aufgesucht 

Mit der Stellungnahme mischen sich die Opferhilfen in eine aktuelle Debatte. Denn bereits eine Petition von Amnesty International, nach der Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung als Vergewaltigung bestraft werden sollte, und diverse Interpellationen von Politikerinnen diesen Sommer befassen sich mit dem Thema sexueller Gewalt. FDP-Nationalrätin Isabelle Moret, Mattea Meyer von der SP und Sibel Arslan, Nationalrätin der Grünen, etwa plädieren für eine Revision des Sexualstrafrechts. Dies, damit Opfer von sexueller Gewalt besser geschützt und die Täter angemessen bestraft werden können. Der Bundesrat sieht bisher keinen Reformbedarf. Er verfolge aber die Entwicklung aufmerksam, hiess es vor ein paar Tagen.

Gemäss dem Bericht von Amnesty International hat in der Schweiz jede fünfte Frau ab 16 Jahren schon ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, mehr als jede zehnte Frau hatte Sex gegen ihren Willen. Diese Zahlen sind schockierend. Genau wie die Zahlen der Opferstellen. «Der Handlungsbedarf ist riesig», sagt Lavoyer. 6413 Mal wurden letztes Jahr Opferhilfestellen wegen eines Sexualdelikts aufgesucht. In 4761 Fällen ging es um sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung. Das sind 91 Fälle pro Woche. Die allermeisten Opfer sind Frauen. Doch zu Anzeigen kommt es in den wenigsten Fällen. Gemäss Polizeistatistik gab es im selben Jahr lediglich 626 Anzeigen wegen Vergewaltigung und 665 wegen sexueller Nötigung.

Was man nicht vergessen darf: Nur ein kleiner Teil der Opfer meldet sich. Ein Grossteil schweigt. Die Dunkelziffer ist riesig. Eine repräsentative Umfrage geht davon aus, dass sich lediglich jede elfte Betroffene bei einer Beratungsstelle meldet. 

Am Ende des Berichts heisst es: «Die Opferhilfestellen, die tagtäglich das Leid der Frauen erleben, fordern angesichts dieser Zahlen, dass die Politik sexuelle Gewalt an Frauen endlich als vordringliches gesellschaftliches Problem wahrnimmt und ihr konsequent entgegenwirkt.» Eine Reform des Sexualstrafrechts sei aus gesellschaftspolitischer wie auch aus menschenrechtlicher Perspektive unumgänglich.

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