Sergio Devecchi wuchs im Heim auf und schämte sich dafür
2:20
Später wurde er Heimleiter:Sergio Devecchi wuchs im Heim auf und schämte sich dafür

Sergio Devecchi erlebte in einem Tessiner Erziehungsheim die Hölle – und ist heute trotzdem glücklich
«Ich hatte die Fähigkeit, mich selber zu trösten»

Sergio Devecchi (72) erlebte als uneheliches Kind in einem Tessiner Erziehungsheim die Hölle – und ist heute trotzdem glücklich und erfolgreich. Wie geht das?
Publiziert: 21.05.2019 um 23:41 Uhr
1/13
Sergio Devecchi verbrachte seine Kindheit und Jugend in Heimen. Dort misshandelte man ihn, zwang ihn zu harter Arbeit in der Landwirtschaft.
Foto: Philippe Rossier
Rebecca Wyss

Presseinterviews, Podiumsdiskussionen, Lesungen – gerade ist Sergio Devecchis (72) Autobiografie «Heimweh» auf Italienisch erschienen, jetzt eilt er von einem Termin zum nächsten. Sogar in Norditalien ist er unterwegs. Dort kann man kaum glauben, dass die humanitäre Schweiz so lange unschuldige Kinder und Jugendliche in Heimen und Erziehungsanstalten versorgt hat. Sergio Devecchi ist heute, was er als Bub nie war: gefragt.

Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte Sergio Devecchi in Heimen. Dort misshandelte man ihn, zwang ihn zu harter Arbeit in der Landwirtschaft. Alles nur, weil seine Tessiner Mutter unehelich schwanger wurde. Und es offiziell keinen Vater gab. Trotzdem machte er später Karriere: als Jugendheimleiter und als Präsident des Schweizerischen Fachverbands für Sozial- und Sonderpädagogik. Heute hat er Familie, ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen und wohnt an bester Lage mit Seeblick in Zürich. Wer seine Wohnung betritt, wird von den Hunderten von Büchern in den Regalen fast erschlagen – so gross ist sein Wissenshunger. Sergio Devecchi ist das, was Psychologen resilient nennen: Trotz schlimmsten Erlebnissen ist er psychisch und physisch gesund. Wie geht das?

Von der administrativen Versorgung zum Heimkind

Bis 1981 sperrte der Schweizer Staat junge Menschen in Anstalten ein. Ohne dass diese eine Straftat begangen hatten. Nur weil sie nicht ins Gesellschaftsbild passten. Mindestens 60'000 kamen durch die administrative Versorgung zu Schaden. Oft kamen junge Mütter ins Gefängnis, weil sie unehelich schwanger geworden waren. Ihre Kinder brachte man im Heim unter.

Bis 1981 sperrte der Schweizer Staat junge Menschen in Anstalten ein. Ohne dass diese eine Straftat begangen hatten. Nur weil sie nicht ins Gesellschaftsbild passten. Mindestens 60'000 kamen durch die administrative Versorgung zu Schaden. Oft kamen junge Mütter ins Gefängnis, weil sie unehelich schwanger geworden waren. Ihre Kinder brachte man im Heim unter.

Administrativ Versorgte unter der Lupe

Ein Forscherteam der Universität Zürich will genau das im Rahmen der Nationalen Forschungsprogramme (NFP) herausfinden. Die Psychologen arbeiten sich zunächst durch 250 Lebensläufe von Menschen, die administrativ versorgt und in Heimen fremdplatziert wurden. Aus einer Studie mit 140 ehemaligen Verdingkindern wissen sie: Rund die Hälfte der Opfer hat ihr Trauma von alleine überwunden.

Die Co-Leiterin des Forscherteams, Myriam Thoma, sagt: «Es hängt nicht nur von der einzelnen Person und ihrem Charakter ab, ob jemand psychische Widerstandsfähigkeit zeigt.» Sondern von vielen Faktoren. Zum Beispiel vom Wohlstand – wer in Armut lebt, hat schlechtere Chancen, weil er ständigem Stress ausgesetzt ist. Wohlgesinnte Menschen dagegen geben Halt.

Ihm halfen immer wieder Menschen

Devecchi begegnete Menschen, die ihm halfen. Wie die Betreuerin Anneli, «die mir als Säugling ein gewisses Urvertrauen vermittelt hat», sagt er. Später war es ein Polizist. Auf einem seiner vielen Fluchtversuche griff dieser den Teenager auf, hörte ihm zu und lud ihn zum Essen ein, bevor er ihn zurückbrachte. Eine Heimleiterin – «obwohl eine Sadistin» – büffelte mit ihm für die Sek-Prüfungen. Und ein Sozialarbeiter aus Zürich nahm sich seiner an, als er 19 war. Der Mann organisierte dem verwahrlosten Jungen einen Praktikumsplatz in einem Heim – diesmal als Betreuer. Wegen ihm studierte er später auch Sozialpädagogik – er gewann an Selbstvertrauen, machte Karriere.

Die Forschung bestätigt: Sich selbst zuzutrauen, dass man gerade wegen der krassen Vergangenheit noch ganz anderes im Leben meistern kann, gibt Kraft. Genauso wie die Möglichkeit, die Vergangenheit zu verarbeiten. Und das Leben mit seinen Hochs und Tiefs annehmen zu können.

Keiner ist grundsätzlich widerstandsfähig

In den ersten elf Jahren im Kinderheim «Gott hilft» in Pura TI stand Devecchi oft zwischen den Rebstöcken in der Gegend. Voller Verwunderung schaute er auf den Luganersee hinunter, der in der grellen Sonne glitzerte. «Ich hatte irgendwie die Fähigkeit, mich so zu trösten. Andere nahmen sich das Leben.»

Niemand ist grundsätzlich resilient. Auch all jene, die es vermeintlich geschafft haben, können von ihrer Vergangenheit eingeholt werden. Und tief fallen. Aber auch umgekehrt: Man kann wieder aufstehen und psychische Widerstandsfähigkeit entwickeln. Sergio Devecchi hat seine Vergangenheit verarbeitet. Auch wenn er bis vor zehn Jahren schwieg. Bis zu seiner Pensionierung. Aus einem einfachen Grund: «Hätte man meine Geschichte gekannt, wäre meine Karriere nicht möglich gewesen.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?