Textilarbeiter Kasi P. nähte Jacken in einem Slum in Mumbai – ohne Vertrag, ohne Versicherung, ohne Vorsorge. Seine Arbeitsbedingungen genügten nicht einmal den laschen indischen Arbeitsgesetzen. Die «SonntagsZeitung» besuchte ihn vor neun Jahren und erzählte seine Geschichte. Kasi P. arbeitete für den Schweizer Zivilschutz. Dafür erhielt er Fr. 3.40 pro Tag.
Aufträge der öffentlichen Hand müssen ausgeschrieben werden. Das gilt für den Zivilschutz genauso wie für sämtliche Kantone, Gemeinden, Bundesämter oder staatsnahe Betriebe wie die Post. Bewerben können sich alle interessierten Firmen im In- und Ausland. Es geht um enorme Summen. Jährlich werden Aufträge in Milliardenhöhe vergeben.
Ein Gesetz für mehr Fairness
Wer den Zuschlag erhält, regelt das Beschaffungsgesetz. Um Steuergelder zu schonen, entschied bislang meist der Preis. Dabei kam es immer wieder vor, dass bei Aufträgen an Länder des Südens grundlegende Arbeitsrechte oder Umweltvorschriften missachtet wurden, um mit Dumpingangeboten zum Zuschlag zu kommen. Wie bei Kasi P.
Das sollte sich ändern. Nach jahrelangen Debatten trat Anfang Jahr ein neues Beschaffungsgesetz in Kraft. Um solche Fälle zu verhindern, hielt das Parlament im Gesetz fest, dass neben den Kernübereinkommen der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) weitere Arbeitsstandards eingefordert werden dürfen. Damit sollen die Aufträge nur noch an Firmen gehen, die ihre Arbeiter und Arbeiterinnen vor exzessiven Arbeitszeiten schützen und ihnen einen sicheren Arbeitsplatz und Gesundheitsschutz garantieren.
Das Gesetz ist ein breit abgestützter Kompromiss. Stellvertretend für die linke Ratsseite sagte der Basler SP-Nationalrat Beat Jans während der Debatte: «Wir wollen, dass sich Geschichten wie die von Kasi P. nicht mehr wiederholen.» Der bürgerlichen Seite gefiel der protektionistische Aspekt. Bislang waren Schweizer Firmen wegen höherer Löhne und strengerer Auflagen im internationalen Wettbewerb häufig chancenlos. Wenn der Preis nicht mehr allein entscheide und alle mit gleich langen Spiessen kämpften, profitierten die Einheimischen, erklärte etwa der damalige Glarner BDP-Nationalrat Martin Landolt (heute Mitte) im Rat.
Verwaltung nahm eigenhändig Änderungen vor
Nur, der Bundesverwaltung ging das Gesetz offenbar zu weit. Ohne Rücksprache mit dem Parlament änderte sie die dazugehörige Verordnung, die der Bundesrat in der Folge genehmigte. Dabei ging es um eine vermeintlich spitzfindige Formulierung. Die Bundesverwaltung ergänzte den Gesetzesartikel so, dass weitere Arbeitsstandards nur eingefordert werden dürfen, «wenn die Schweiz sie ratifiziert hat». Das Problem dabei: Auf der Liste der ratifizierten Übereinkommen fehlen wichtige internationale Arbeitsstandards, so etwa zu Arbeitszeiten, Mindestlöhnen, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.
Diese Einschränkung sorgt nun für heftige Diskussionen im Parlament. Der Vorwurf: Bundesrat und Verwaltung hätten damit ihre Kompetenzen überschritten. «Die Verwaltung foutiert sich um den Auftrag des Gesetzgebers», empört sich Nationalrat Martin Landolt. Das sei inakzeptabel. Mit dieser Einschränkung werde eine nachhaltigere Beschaffung verhindert. Zudem sei völlig intransparent, wer die Einschränkung eingebracht habe.
Kompetenzen «stark ausgereizt»
Rechtswissenschaftlerin Elisabeth Bürgi Bonanomi versteht den Ärger. Sie forscht an der Universität Bern zu nachhaltigem Handel und hat die Debatten eng verfolgt. Der Bundesrat und die Verwaltung hätten ihre Kompetenzen «stark ausgereizt», sagt Bürgi Bonanomi. Die Latte für Arbeitsstandards sei nun sehr tief angesetzt.
Auch Hilfsorganisationen und der Verband Swiss Textiles, die sich stark für die Gesetzesänderung engagiert hatten, fühlen sich übergangen. Die Textilbranche ist besonders betroffen. Kleider werden meist in Billiglohnländern und oft unter prekären Bedingungen hergestellt. «Arbeitszeitbeschränkungen und Mindestlöhne sind für uns ganz zentrale Kriterien für soziale Nachhaltigkeit», sagt Nina Bachmann von Swiss Textiles. «Wenn solche Standards nicht eingefordert werden können, ist das ein riesiger Rückschritt.»
Die Begründung des Seco
Verantwortlich für die Änderung ist offenbar das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Auf Anfrage erklärt das Amt, mit besagter Einschränkung soll schweizerischen und ausländischen Firmen ein fairer Zugang zu den öffentlichen Aufträgen des Bundes gewährt werden. Durch die Präzisierung in der Verordnung werde ein fairer Wettbewerb gewährleistet. Nach Ansicht des Seco darf die Schweiz keine Standards von ausländischen Firmen verlangen, die sie in internationalen Abkommen nicht ratifiziert hat.
Der Einwand sei unbegründet, sagt Rechtswissenschaftlerin Bürgi Bonanomi. Es müsse bloss sichergestellt sein, dass ausländische Firmen nicht diskriminiert würden. Die von den Beschaffungsstellen eingeforderten Standards müssten auch in der Schweiz eingehalten werden. Zudem gebe es viele internationale Standards, die in der Schweiz beachtet werden müssen, für die es aber keine Abkommen gebe.
Nationalrat Landolt geht es darum, dass minimale Arbeitsstandards eingefordert werden können, um Gelder nachhaltiger einzusetzen. «Eine möglichst liberale Marktwirtschaft, wie sie die Verwaltung fordert, wollte das Parlament bewusst nicht.» Zweimal bat er den Bundesrat um Klärung – ohne eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten. Nun will Landolt die zuständigen Verwaltungsangestellten und Wirtschaftsminister Guy Parmelin in die Wirtschaftskommission vorladen. Dort sollen sie ihr Vorgehen erklären müssen.