Es gibt Orte, an denen es unerheblich sein sollte, ob man arm oder reich ist, aus einer bildungsfernen Schicht kommt oder aus einem anderen Land. Die Schule ist ein solcher Ort, oder das Spital. Und sicher auch der Gerichtssaal. Doch ist der tatsächlich ein solcher neutraler Ort? Drei Thesen, wo die Strafjustiz Leute aufgrund ihrer Vermögensverhältnisse ungleich behandelt – und was an ihnen dran ist.
These: Wer kein Geld hat, kann sich nicht ausreichend verteidigen
Richter: «Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Wenn Sie einen wollen, müssen Sie das jetzt sagen, und wir müssen die Verhandlung abbrechen.»
Beschuldigter: «Ich habe kein Geld für einen Anwalt.»
Richter: «Machen wir es ohne Anwalt?»
Beschuldigter: «Ja.»
Richter: «Es gibt auch die Möglichkeit eines amtlichen Verteidigers. In diesem Fall müssten wir darüber befinden, und wenn Sie wieder Geld haben, müssen Sie die Kosten zurückerstatten.»
Beschuldigter: «Ich weiss nicht, ob ich einen Anwalt brauche [...]. Ich glaube nicht [...].»
Richter: «Ich glaube es auch nicht.»
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Diesen Dialog hat ein Forscherteam 2014 in einem Berner Gerichtssaal aufgezeichnet. Richter und Beschuldigter diskutieren über die amtliche Verteidigung – und damit über einen Grundpfeiler unseres Rechtssystems. Denn nur wenn sich auch diejenigen verteidigen können, die sich keine Anwältin leisten können, ist ein Strafverfahren wirklich fair. Erst dann herrscht zwischen Staat und Angeklagten Waffengleichheit.
Doch Anwältinnen könnten mit ihren Anträgen Verfahren verlängern, die Staatsanwälte und Gerichte lieber rasch abgeschlossen hätten. Lehnen die Behörden ein Gesuch um einen unentgeltlichen Anwalt deshalb nicht lieber ab, statt es gutzuheissen? Das obige Beispiel deutet darauf hin.
Aus Sicht von Thomas Fingerhuth, seit über 20 Jahren Strafverteidiger, ist es aber nicht so: «Die meisten Staatsanwälte und Gerichte sind froh, wenn ein Beschuldigter einen Verteidiger hat, da sie dann das Verfahren unkomplizierter durchführen können – etwa indem er von aussichtslosen Eingaben abrät oder Beschuldigte auf Einvernahmen und Verhandlungen vorbereitet.»
2014 war der überwiegende Teil aller Beschuldigten vor Gericht vertreten (im Kanton Zürich waren es gar 91 Prozent). Neuere Zahlen sind derzeit nicht verfügbar. Doch auch wenn sie bereits älter sind: Viel dürfte sich nicht verändert haben.
Allerdings kommen nur die wenigsten Fälle vor Gericht. 95 Prozent werden über einen Strafbefehl erledigt. Und hier sieht es ganz anders aus: Gerade mal 7,5 Prozent aller Beschuldigten sind im Strafbefehlsverfahren verteidigt – nur 1,4 Prozent davon amtlich. Es mögen teils Bagatellen sein, aber nicht nur.
Eine Verkehrsregelverletzung mit Führerausweisentzug kann für einen Taxifahrer verheerend sein. Nicht wenige der Beschuldigten dürften den Inhalt des Strafbefehls nicht verstehen – und schon gar nicht wissen, dass sie Anspruch auf eine amtliche Vertretung hätten. Dabei kann gerade das den Unterschied ausmachen: Wer vertreten ist, erhebt zehnmal so häufig Einsprache.
Allerdings garantiert ein Anwalt allein noch nichts. Entscheidend ist ein anderer Faktor: die Zeit. Wer lange Akten wälzt und recherchiert, findet irgendwann die Schwachstelle in der Anklage. Anwalt Fingerhuth bestätigt das: «Es gibt keine aussichtslosen Fälle, und häufig liegt das Problem im Detail. Das zu finden, braucht Zeit und eben leider auch Geld.» Und das muss man erst haben. Ein Strafverteidiger kostet schnell einmal 300 bis 500 Franken pro Stunde.
Rechtsvertretung: Kinder und Jugendliche vor Gericht
Übrigens: Als Fingerhuth einen Zürcher Millionärssohn vertrat, der im Drogenrausch einen Kollegen getötet hatte, stand ihm – neben einem weiteren Strafverteidiger – ein spezialisierter Anwalt für die Medienarbeit zur Seite. Der kümmerte sich unter anderem darum, dass keine unverpixelten Bilder veröffentlicht wurden. Litigation-PR nennt man das. «In solchen Fällen wird es richtig teuer, und wenn ich teuer sage, dann meine ich schnell eine Million», so Fingerhuth.
Von solchen Dimensionen können amtliche Verteidiger nur träumen. Ihr Stundensatz liegt in vielen Kantonen bei 180 Franken. Häufig werden die Honorarrechnungen dann noch gekürzt, weil die verantwortlichen Stellen von unverhältnismässigem Aufwand ausgehen. Und: Wenn etwa Berufung eingelegt wird, riskiert die amtliche Anwältin häufig, auf den Kosten sitzenzubleiben. Das Argument lautet dann nämlich oft, dass der Fall aussichtslos gewesen sei. Man fragt sich unweigerlich, ob dieses Risiko den einen oder anderen amtlichen Vertreter nicht hemmen mag, alles Mögliche für seine Mandantin in die Waagschale zu werfen.
Check: Wer einen Anwalt braucht, bekommt diesen auch – vorausgesetzt, er weiss um sein Recht. Aber: Weil amtliche Verteidigerinnen in der Schweiz finanziell kurzgehalten werden, können sie weniger Aufwand betreiben. These stimmt teilweise.
These: Wer reich ist, kommt besser davon
Frühmorgens nach dem Ausgang aneinandergeraten, ein paar böse Worte miteinander gewechselt: Das ist dem Schweizer Fussballnationalspieler Breel Embolo passiert. Wegen Drohung wurde er diesen Frühling zu einer bedingten Geldstrafe von 135’000 Franken verurteilt. Oder anders gesagt: zu 45 Tagessätzen à 3000 Franken.
Berechnet werden die Geldstrafen, die rund 85 Prozent aller Strafen ausmachen, nach dem sogenannten Tagessatzsystem. Dabei wird eine bestimmte Anzahl Tagessätze mit der Höhe des Tagessatzes multipliziert. Die Anzahl ist abhängig vom Verschulden. Die Höhe ist abhängig vom Einkommen des Täters – abzüglich Steuern, Krankenkassenprämien und Unterhaltsbeiträgen. Ein Tagessatz beträgt in der Regel mindestens 30 Franken und höchstens 3000 Franken. Eigentlich fair, oder?
Doch schmerzen 135’000 Franken einen millionenschweren Fussballer gleich viel wie 1350 Franken einen Sozialhilfebezüger, der diese Strafe – 45 mal 30 Franken – für das gleiche Delikt kassiert hätte? Kaum. 1350 Franken plus Verfahrenskosten – das geht ans Lebendige. Zu Recht, könnte man einwenden. Immerhin hat man ja eine Straftat begangen. Doch das müsste auch für Vermögende gelten. Für sie ist eine relativ gleich hohe Strafe in der Regel nicht existenzbedrohend. Embolo dürfte die Strafe locker aus seinem Vermögen zahlen können.
Vom Fussballspieler Embolo zu einer anderen illustren Persönlichkeit: Der Fall «Loredana» zeigt, wie man ein Strafverfahren stoppen kann – vorausgesetzt, man hat genügend Geld. 2018 stand die Rapperin im Verdacht, eine Ahnungslose um 432’000 Franken gebracht zu haben. Die Masche: Das Opfer soll bereits viel Geld für eine angeblich benötigte Operation gezahlt haben, worauf sich die Rapperin als Anwältin ausgegeben habe, so der Verdacht der Staatsanwaltschaft. Sie habe angeboten, dem Opfer zu helfen, das Geld zurückzubekommen – und dafür nochmals abkassiert. Gegen Loredana wurde deshalb wegen Betrugs ermittelt. 2020 wurde das Verfahren dank eines Deals eingestellt. Loredana hatte das Unrecht anerkannt, sich beim Opfer entschuldigt und ihm 609’000 Franken gezahlt.
Wiedergutmachung heisst das Zauberwort. Wer mit seinen Opfern einen Vergleich schliessen und ihnen den Schaden ersetzen kann, kann straffrei davonkommen. Und es gibt noch andere Erleichterungen, die man sich mit Geld kaufen kann.
Greco-Gremium: Schlechte Noten bei Korruptionsbekämpfung
Wer geständig ist, kann mit der Staatsanwaltschaft ein abgekürztes Verfahren vereinbaren und einen Deal über die Höhe der Strafe abschliessen. Diese fällt dann in der Regel tiefer aus – immerhin erspart man dem Staat auch ein möglicherweise aufwendiges Beweisverfahren. Voraussetzung ist aber, dass man die Zivilansprüche anerkennt, also für den Schaden aufkommt, den man verursacht hat. Das tut man nur, wenn genug Geld dafür da ist.
Vorteile hat auch, wer sich ein Privatgutachten leisten kann, das einen möglicherweise entlastet. Oder wer eine Kaution zahlen kann, damit er nicht in Untersuchungshaft muss. Möglichkeiten, die nicht alle haben.
Check: Bei den Staatsanwaltschaften türmen sich die Fälle. Strafprozesse müssen möglichst effizient abgeschlossen werden. Das begünstigt abgekürzte Verfahren oder Vergleiche mit Opfern. Das geht auf Kosten des Untersuchungsgrundsatzes und der Gerechtigkeit. These stimmt.
These: Wer anders ist, wird härter bestraft
Stell dir vor, du wärst eine Richterin, ein Richter. Dir wird folgender Fall präsentiert: Ein Lagerarbeiter hat während seines Dienstes eine Kiste Whisky gestohlen. Bevor du urteilst, willst du mehr über die Umstände erfahren. Gehe dafür von zwei Varianten aus: Im einen Fall war der Täter ein Alkoholiker. Seine Frau wollte ihn verlassen, weil er zu oft in Bars herumsass und sich nicht um die Familie kümmerte. Im anderen Fall war der Täter ein gewissenhafter Familienvater, der fleissig und sozial integriert war und sehr an seinem Job hing. Nun: Welchen der zwei würdest du härter bestrafen?
Das «Whisky-Experiment» wurde 1970 etwas anders und mit 100 Richtern durchgeführt. Der einen Hälfte wurde der Fall des Alkoholikers, der anderen derjenige des «anständigen» Arbeiters vorgelegt. Das Resultat: Der «anständige» Arbeiter und Familienvater wurde im Durchschnitt sehr viel milder bestraft. Woran haben sich die Richter – oder vielleicht auch du? – mehr orientiert: am eigentlichen Delikt oder am Privatleben des Täters? Es scheint, als hätten die Richter den Mann für seinen Lebenswandel abstrafen wollen.
Ähnlich eine Befragung unter 179 Schweizer Staatsanwälten: 37,4 Prozent von ihnen gingen in einer Selbsteinschätzung davon aus, dass Ausländer in Strafbefehlen härter bestraft werden. Auch ob jemand ein stabiles oder eben instabiles soziales Umfeld hat, erwähnte fast die Hälfte als Kriterium bei der Strafzumessung.
Warum ist das so? Das weiss die Expertin Sunita Asnani. Sie sagt: «Unbewusste Vorurteile, auch Unconscious Bias genannt, sind wie ein unsichtbarer Kompass. Sie lenken unsere Entscheide, ohne dass wir es merken.» Es gebe über 170 wissenschaftlich beschriebene Bias. «Der Ähnlichkeits-Bias beschreibt zum Beispiel die Neigung, Menschen positiver zu bewerten, wenn sie Ähnlichkeiten mit uns selbst aufweisen – etwa den gleichen sozialen Hintergrund.»
Richterinnen könnten unbewusst dazu neigen, milde Urteile für Personen zu fällen, die ihnen ähnlich erscheinen. Beispielsweise gegenüber dem anständigen Familienvater. «Wenn sie sich besser mit dem Angeklagten identifizieren können, können sie sich vermeintlich auch leichter in ihn hineinversetzen.» Wenn ausländische Personen härter bestraft werden, spielen oft der Ethnic und der Racial Bias eine Rolle, also die Benachteiligung von Personen aufgrund ihrer Hautfarbe, Ethnie, Religion oder anderer Merkmale.
Check: Studien haben ergeben, dass 99,9 Prozent aller Menschen gegenüber Personen, die anders aussehen oder sich anders verhalten, unbewusst voreingenommen sind. Darunter sind auch Polizisten, Staatsanwältinnen und Richter. Dass sich das auf die Härte der Urteile niederschlägt, kann man zumindest nicht ausschliessen. Die These hat einiges für sich.