Die Zukunft der EU könnte heute enden. Ausgerechnet in der Heimat der europäischen Werte. 47 Millionen Franzosen wählen bis 20 Uhr ihren nächsten Präsidenten (Hier gehts zum Wahl-Liveticker). Vier Kandidaten haben Aussicht auf den zweiten Wahlgang am 7. Mai. Zwei würden das Ende der EU in ihrer heutigen Form bedeuten. Rechtsnationalistin Marine Le Pen (48) sagt: «Ich will die EU zerstören.» Linksaussen Jean-Luc Mélenchon (65) will die EU entweder komplett umkrempeln – oder austreten. Gemäss Umfragen vertreten die beiden gemeinsam mit anderen EU-Gegnern unter den elf Kandidaten über 50 Prozent der Wähler. Frankreich wendet sich von Europa ab.
Liberté, Égalité, Nationalité!
Wenn heute Abend in Paris die Vorentscheidung über Europas Zukunft fällt, ist Jean-Claude Juncker (62) noch über den Wolken. Der EU-Kommissionspräsident wird erst spät in der Nacht vom Frühjahrstreffen des Internationalen Währungsfonds zurückerwartet. Mitten in ihrer fundamentalsten Krise flüchtete der wichtigste Politiker der EU nach Washington. Angst, bei der Rückkehr eine andere Realität vorzufinden, hat Juncker nicht. Er vertraue auf die «Weisheit» der Franzosen und hoffe, dass am Ende ein proeuropäischer Kandidat siegt. Ein proeuropäischer Kandidat?
Die EU steckt in ihrer grössten Krise
Das Problem ist, dass selbst die gemässigten Kandidaten keinen Anlass zur Hoffnung geben, sagt Günter Verheugen (72), ehemaliger Vizepräsident der EU-Kommission: «Jeder denkbare Ausgang dieser Wahl ist mit grossen Fragezeichen verbunden.» Der europafreundliche Konservative François Fillon (63) ist durch politische Skandale geschwächt, hat sich im Kampf um Wählerstimmen den Positionen von Marine Le Pen angenähert und fordert unter anderem eine Kontingentierung der Zuwanderung.
Bleibt Emmanuel Macron (39), von vielen als Europas Hoffnungsträger hochstilisiert. Doch Günter Verheugen sieht auch ihn nicht als Lösung. «Hinter ihm steht ja gar keine Partei, keine politische Kraft», sagt Verheugen. Macron dürfte es mit seiner Bewegung En Marche! schwer haben, als Präsident politische Mehrheiten zu gewinnen.
Verheugen kann sich keine Konstellation vorstellen, «bei der ein kraftvoller Präsident an die Macht kommt mit einer starken Mehrheit und einer breiten Unterstützung in der französischen Bevölkerung». Doch genau das bräuchte die EU. Nach dem Brexit-Votum steckt sie in der grössten Krise seit ihrer Gründung. Nur das deutsch-französische Tandem gilt in Brüssel als treibende Kraft. Doch Frankreich rollt lediglich mit – ohne in die Pedale zu treten.
Die Schwäche der EU als Chance für die Schweiz
In der Schweiz sehen Europa-Politiker die Schwäche der EU als Chance in den Verhandlungen um die Personenfreizügigkeit. SVP-Nationalrat Lukas Reimann (34, SG) jubelt: «Das grenzenlose Europa und die freie Zuwanderung werden nun schrittweise abgebaut.» Die Schweiz – so der Auns-Präsident weiter – müsse die Chance nutzen, um der EU ihre Standpunkte zu übermitteln. Sein Parteikollege Roland Büchel (51, SG), Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats: «Wenn in ein paar Jahren über die Kündigung der Personenfreizügigkeit abgestimmt wird, werden wir in einem anderen Europa leben.»
Auch der Aargauer FDP-Ständerat Philipp Müller (64) findet, die Schweiz müsse auf das Machtvakuum in der EU reagieren, und empfiehlt «ja kein Gstürm» bei der Aushandlung eines institutionellen Rahmenabkommens. «Vielleicht gibt es tatsächlich bald eine Möglichkeit, das Personenfreizügigkeitsabkommen im Sinne der Schweiz anzupassen.»
Selbst alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (71) findet, der Bundesrat müsse die Krise Europas ausnutzen. «Für die Schweiz heisst das, es besteht keine Eile in den Verhandlungen mit Brüssel. Wir sollten zuwarten und sehen, wohin die Entwicklung führt.» CVP-Präsident Gerhard Pfister (54) teilt Calmy-Reys Sicht der Dinge.
Eine Untergangsindustrie hat sich entwickelt
«Das Wohlergehen der Europäischen Union ist ganz eng verknüpft mit dem Wohlergehen Frankreichs», sagt Günter Verheugen. Doch die Franzosen scheinen nicht an ihr Wohlergehen zu glauben. Fast 60 Prozent finden ihre wirtschaftliche Lage nach fünf Jahren unter Präsident François Hollande schlechter als zuvor.
Zwar ist Frankreich noch immer die sechstgrösste Wirtschaftsmacht der Welt. Doch ihr Motor stottert: zehn Prozent Arbeitslose, ein Viertel der 16- bis 25-Jährigen hat keinen Job. Die Angst vor dem Terror kommt hinzu. Doch für Frankreich-Experte Ulrich Wickert (74) ist die Tristesse viel älter: «Frankreich steckt tief in einer seit Jahrzehnten andauernden Identitätskrise.» Wickert, jahrelang Leiter des Paris-Büros der ARD und Moderator der «Tagesthemen»: «Das 20. Jahrhundert war für Frankreich ein Jahrhundert des Bedeutungsverlusts.» Es hat sich sogar etwas wie eine Untergangsindustrie entwickelt: Die Bestsellerlisten sind voll mit Büchern, welche Titel tragen wie «Chronik des französischen Versagens», «Der französische Selbstmord» oder «Die unglückliche Identität».
Letztes Jahr wurde ein neues Wort ins französische Pendant des Dudens aufgenommen: «Déclinisme». Es steht für den festen Glauben an einen Niedergang Frankreichs.
Wer sind eigentlich die vier Favoriten im Rennen um das Präsidentenamt in Frankreich? Blick informiert Sie mit den wichtigsten Fragen und Antworten zur Herkunft, den politischen Zielen und den bekannten Skandalen der Spitzenkandidaten Le Pen, Macron, Fillon und Mélenchon.
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