BLICK: Herr Holenstein, ein Offizier ruft quasi dazu auf, die eigene Freundin zu erschiessen. Was halten Sie davon?
Stefan Holenstein: Gemäss meinen Informationen handelt es sich um einen Oberwachtmeister. Ich lege für 95 Prozent unserer Kader die Hand ins Feuer, dass sie keine solch geschmacklosen Übungen durchführen. Diese Einzelfälle sind ein Ärgernis und schaden der Armee und allen, die ihren Dienst korrekt leisten. Zudem schadet dieses Machogehabe der angestrebten Integration von Frauen in die Armee.
Was erwarten Sie für Konsequenzen?
Untersuchungen wurden offenbar eingeleitet. Das ist richtig, und der junge Mann muss für sein Fehlverhalten die Konsequenzen tragen. Das VBS muss in solchen Fällen ein Exempel statuieren und konsequent durchgreifen.
Das politisch dominierende Thema ist die Umsetzung der Weiterentwicklung der Armee, WEA. Läuft in diesem Bereich alles, wie es sollte?
Die Schweizerische Offiziersgesellschaft, die SOG, trägt die Reform mit. Sie sieht auf dem Papier gut aus, aber wir machen uns grosse Sorgen. Die total verunglückten Reformen 95 und 21 tönten in der Theorie auch plausibel, doch die Umsetzung war ein Debakel, weil die Politik die nötigen Ressourcen gekürzt hatte. Wir von der Miliz waren in den letzten 25 Jahren viel zu anständig und hielten uns zurück. Bei der Umsetzung der WEA wollen wir deshalb von Anfang an dabei sein. Konkret: Die SOG beziehungsweise die Milizoffiziere müssen zwingend in den entscheidenden Gremien vertreten sein und Einfluss nehmen.
Wo sehen Sie die Gefahren für ein Scheitern?
Zwei Faktoren sind entscheidend: die Finanzen und das Personal. Es darf auf keinen Fall passieren, dass die Armee plötzlich weniger Geld als die zugesicherten fünf Milliarden Franken pro Jahr zur Verfügung hat. Mittelfristig, nach Umsetzung der WEA, reichen die fünf Milliarden nicht mehr für den Ersatz der neuen Systeme. Beim Personal laufen wir jetzt schon Gefahr, nicht genügend Soldaten zu haben, um die Ziele der WEA zu erreichen. Wir haben zu viele Abgänge an den Zivildienst. Hinzu kommt, dass wir die besten von ihnen nicht dazu bringen, eine Kaderlaufbahn anzustreben. Vor allem an Studenten und Maturanden kommt die Armee nicht heran. Hier gibt es Nachholbedarf.
Wer steht in der Verantwortung?
Durch die Verkleinerung der Armee ist sie nicht mehr so stark in der Gesellschaft verankert wie früher. Wir müssen der Milizarmee Sorge tragen. Deshalb müssen alle Schweizerinnen und Schweizer sensibilisiert werden, wofür es eine Armee und warum es teure Beschaffungen braucht. Da sind wir alle gefordert. Doch ich erwarte gerade vom Verteidigungsdepartement und von Guy Parmelin eine deutlich aktivere Kommunikation. Hier könnte er proaktiver kommunizieren.
Gestern tat Guy Parmelin genau das: Er legte in einem grossen Bericht eine Übersicht über laufende Projekte dar. Reicht Ihnen das nicht?
Das ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Denn bezüglich Transparenz begrüssen wir den Bericht. Allerdings wird sich noch weisen müssen, wie aussagekräftig der Bericht wirklich ist, etwa bei der Frage der Qualität und der Ressourcen eines konkreten Projekts. Zudem ist das jährliche Intervall diskutabel. Dieses könnte man je nach Bedarf auch verkürzen.
Funkstille herrscht weiterhin bei der sistierten Beschaffung der bodengestützten Luftverteidigung, der Bodluv 2020.
Hier stimmte die Kommunikation offensichtlich nicht. Bis heute weiss kein Mensch, wie es mit dem Projekt Bodluv weitergeht. Da herrscht grosse Unklarheit. Parmelin muss nun sofort proaktiv kommunizieren und aufhören, sich hinter Berichten zu verstecken. Ansonsten droht ein Beschaffungsstau: Ab 2022 müssen Artillerie, Kampfpanzer, Radschützenpanzer und Führungsunterstützungssysteme abgelöst werden. Wir haben einen guten und regelmässigen Austausch mit Bundesrat Parmelin. Er muss aber die Anliegen der Miliz ernster nehmen.
Manche meinen, Parmelin kommuniziere manchmal auch vorschnell.
Es kommt auf das Thema an. Die Freistellung von Oberfeldarzt Stettbacher zum Beispiel wirft Fragen auf. Die Beweislage scheint mir recht dünn. In diesem Fall wäre ein bisschen mehr Zurückhaltung wohl besser gewesen.
Wenig nach draussen dringt aus der Begleitgruppe zur Beschaffung eines neuen Kampfjets, in der Sie Mitglied sind. Wie laufen diese Arbeiten?
Der Bericht des Gremiums sollte bald publiziert werden. Wir haben uns im letzten Jahr einmal monatlich getroffen. Es sind viele verschiedene Interessen vertreten, die Emotionen gingen immer wieder mal hoch. Im Fokus stehen der Bedarf und der Beschaffungsprozess für ein neues Kampfflugzeug. Ich denke, wir haben die Lehren aus dem Gripen-Absturz gezogen. Die Typenempfehlung ist noch kein Thema und folgt später.
Unabhängig von den geheimen Beratungen: Was sind Ihre Vorstellungen für die Zukunft der Luftwaffe?
Die SOG beurteilt die Situation von der Bedarfsseite her. Uns schweben, wie in unserem Positionspapier 2012 festgehalten, 70 Kampfflugzeuge eines einzigen Typs vor.
Der neue Armeechef Philippe Rebord ist seit rund 100 Tagen im Amt. Wie beurteilen Sie seine Arbeit?
Er ist bei unseren Anlässen sehr präsent, wir haben einen ausgezeichneten Eindruck. Wir haben grosse Hoffnungen und Erwartungen, dass wir die WEA mit ihm zusammen erfolgreich umsetzen können. Er ist Mister WEA und sein Erfolg wird an jenem der WEA gemessen.
Viele Kader ärgern sich über die Zahl der Dienstverschiebungen vor Wiederholungskursen.
Das ist tatsächlich ein Problem, die Armee geht viel zu grosszügig damit um. Wir müssen von dieser «Jekami»-Stimmung bei den Truppen wegkommen. Mit der WEA wird sich hier einiges verbessern. Das grösste Problem ist aber die faktische Wahlfreiheit beim Zivildienst. Das geht so nicht mehr und muss dringend korrigiert werden.
Warum reden Sie den Zivildienst schlecht?
Das tue ich nicht, der Zivildienst ist verfassungsmässig und gesellschaftlich verankert. Er ist ein Ersatzdienst für den Militärdienst – aus Gewissensgründen. Und deshalb nötig. Doch das System wird heute missbraucht. Viele junge Leute glauben, sie könnten hier ihre individuellen Bedürfnisse und Ziele am besten verwirklichen. Wir haben aber eine Wehrpflicht, in der Verfassung verankert. Hier muss die Politik sofort einen klaren Riegel schieben.