In der Walter Bar im Herzen von Baden AG hat das Virus sichtbare Spuren hinterlassen. Im Lager türmen sich Stühle, auf denen wegen der Abstandsregeln niemand sitzen darf.
Ein unschöner Anblick für Geschäftsführerin Nicole Brack (44). «Wie man sieht, ist die Bar nicht so gross. Und deshalb ist das mit den zwei Metern Abstand extrem schwer umzusetzen», sagt die dreifache Mutter. Und weiter: «Genau das ist es, was viele Gastronomen killt. Vielleicht könnte man hier auf einen Meter runter.»
Zudem sehe sie im Alltag immer mehr, dass die Zwei-Meter-Regel ignoriert werde: «Wenn man einkaufen geht, hält sich fast niemand daran. Viele Menschen meinen, es sei alles wieder normal.» Innerhalb ihrer Bar muss die Chefin aber selber dafür sorgen, dass die Abstände eingehalten werden.
So führt die nachlassende Disziplin dazu, dass Nicole Brack öfters Polizistin spielen muss: «Du bist ständig am Kontrollieren, das ist nicht angenehm.» Immerhin: Bisher hatten alle Gäste Verständnis für die Regeln. «Ich habe zum Glück viele Stammkunden, das macht es einfacher.»
Ordnungsbussen gestrichen
Doch nun sorgt der Bund zusätzlich für Verunsicherung. Er hat die Corona-Verordnung klammheimlich angepasst, wie die Tamedia-Zeitungen berichteten: Wer in der Öffentlichkeit die Abstandsregeln nicht einhält, wird nicht mehr gebüsst. Für Uneinsichtige wurden bisher 100 Franken fällig. Nun gilt die Abstandsregel nur noch als «dringliche Empfehlung».
Was auf öffentlichen Plätzen gilt, gilt aber nicht in den Betrieben. Diese müssen sich an die Schutzkonzepte ihrer Branchen halten – und da gilt grundsätzlich die Zwei-Meter-Regel. Kann diese nicht eingehalten werden, sind andere Schutzmassnahmen nötig wie etwa Plexiglasscheiben.
«Die Abstandsvorschriften treffen uns», klagt auch Gastrounternehmer Rudi Bindella (72). Zurzeit kann er in seinen Lokalen deshalb nur noch drei Viertel der Plätze anbieten. Zudem sei die Stimmung in den Restaurants noch nicht so gut wie in den Zeiten vor Corona. «Ins Restaurant essen geht man auch, weil man Leute treffen, nahe beieinander sein will. Da geht es um ein Gemeinschaftsgefühl.»
Gastrosuisse-Präsident will Lockerung
Am liebsten wäre den Beizern deshalb, die Abstandsregel würde fallen oder weiter gelockert. Denn: «Der Bundesrat ist bei den Distanzregeln inkonsequent», sagt Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer (58). Und nennt ein Beispiel: Eine zehnköpfige Seminargruppe dürfe künftig gemeinsam am Tisch zu Mittag essen, müsse im Seminar selber aber die Abstandsregeln einhalten. «Das versteht doch keiner.»
Er plädiert für einen pragmatischen Ansatz: «Den Abstand hält man nach Möglichkeit ein. Wo dies nicht geht, soll die Kontaktdatenerhebung pro Gästegruppe reichen. Damit ist die Rückverfolgung gewährleistet.»
Polizist zu spielen, könne nicht die Aufgabe der Beizer sein, moniert er. Für die Einhaltung der Schutzkonzepte sind aber tatsächlich die Betriebe selber verantwortlich. Kontrolliert werden sie dabei von den kantonalen Arbeitsämtern. Wenn kein Schutzkonzept vorhanden ist oder dieses zu wenig eingehalten wird, können die Kantone Beizen und Läden notfalls schliessen.
Betrieben droht Schliessung und Strafe
Im Kanton Zürich halten sich die meisten Betriebe an die Vorgaben. Das zuständige Amt für Wirtschaft und Arbeit hat bisher rund 600 Geschäfte kontrolliert. «Die Gastrobranche gehört zu jenen Branchen, wo derzeit vermehrt Kontrollen durchgeführt werden», so Mediensprecherin Irene Tschopp. Kleinere Probleme werden in der Regel gleich vor Ort gelöst. «In wenigen Fällen mussten Nachkontrollen erfolgen.» Eine Betriebsschliessung war bisher nicht nötig.
Anders im Kanton Solothurn. Hier hat das zuständige Amt rund 600 Betriebe kontrolliert – davon 225 Gastrobetriebe. In den meisten Fällen habe man aber nur kleinere Anpassungen vornehmen müssen, so Abteilungsleiter Daniel Morel (55). «Zwölf Betriebe wurden aber vorübergehend geschlossen, weil sie die Schutzkonzepte massiv verletzt haben – darunter drei Gastrobetriebe, konkret Shisha-Bars», sagt Morel. «Mittlerweile konnten elf wieder öffnen, nachdem sie ihr Schutzkonzept nachgebessert hatten. Eine Flasche Desinfektionsmittel am Eingang reicht nämlich nicht.»
Die geschlossenen Betriebe seien alle verzeigt worden, so Morel. Die Fälle liegen bei der Staatsanwaltschaft. Denn wer die Schutzvorgaben in seinem Betrieb vorsätzlich nicht umsetzt, dem droht gemäss Corona-Verordnung eine «Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe».
CVP-Binder verlangt vom Bundesrat Flexibilität
Die unterschiedliche Handhabung der Zwei-Meter-Regel sorgt nicht nur bei Beizern, sondern auch Politikern für Kopfschütteln. «Der Zwei-Meter-Abstand ist schwer begründbar», sagt CVP-Nationalrätin Marianne Binder (61, AG). Für die Wirtschaftlichkeit bräuchten gerade Restaurants andere Abstände. «Wirte wären enorm froh, wenn sie die Tische enger anordnen könnten.» Wichtig sei auch, dass Städte gebührenfrei öffentlichen Raum zur Verfügung stellen würden, damit die Lokale grosszügig rausstuhlen könnten.
«Der Bundesrat muss Flexibilität zeigen», fordert die CVP-Frau. «Wenn in Österreich ein Meter gilt, in Deutschland eineinhalb, dann kann ich die Zwei-Meter-Regel in der Schweiz schwer nachvollziehen.» Der frühere Corona-Delegierte Daniel Koch (65) habe schliesslich selbst eingeräumt, dass die Zwei-Meter-Regel zu einem gewissen Grad willkürlich sei. «Dann sollte man sie auch anpassen können.»