Schlappe vor Gericht
SVP-Schnegg muss bei der Sozialhilfe über die Bücher

Viele vorläufig Aufgenommene leben seit Jahren in der Schweiz – trotzdem erhalten sie deutlich weniger Sozialhilfe als Einheimische. Das geht nicht, hat nun ein Berner Gericht entschieden. Das Urteil könnte über den Kanton hinaus Folgen haben.
Publiziert: 29.06.2022 um 19:33 Uhr
|
Aktualisiert: 30.06.2022 um 09:07 Uhr
1/6
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist eine Schlappe für den Berner Sozialdirektor Pierre Alain Schnegg.
Foto: keystone-sda.ch
Lea Hartmann

1489 Franken pro Monat müssen für eine vierköpfige Familie im Kanton Bern reichen. So hoch ist der Grundbetrag an Sozialhilfe, den vorläufig Aufgenommene für Essen, Kleider, ÖV-Billetts, Handy und alle anderen persönlichen Ausgaben zur Verfügung haben. Das Verwaltungsgericht des Kantons hat nun entschieden: In vielen Fällen ist das zu wenig.

Die Berner Regierung verstosse mit den mickrigen Sozialhilfebeiträgen für diese Menschen, die schon lange in der Schweiz leben, gegen die Verfassung. Es sei nicht gerechtfertigt, dass sie 30 Prozent weniger Sozialhilfe erhalten als Einheimische oder anerkannte Flüchtlinge, findet die Mehrheit des Gerichts. Die Beiträge seien nicht mehr existenzsichernd.

Niederlage für SVP-Regierungsrat Schnegg

Das Urteil ist eine Klatsche für den Berner Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg (59, SVP). Die Richter verknurren seine Direktion dazu, vorläufig Aufgenommenen, die sich seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz aufhalten, mehr zu zahlen.

Die ganze Diskussion ausgelöst haben zwei Fälle von vorläufig Aufgenommenen in Biel BE, die sich gegen die Kürzung wehrten. Das Verwaltungsgericht hat nun entschieden, dass sie nicht 30 Prozent, sondern nur 15 Prozent weniger bekommen dürfen als die regulären Sozialhilfesätze.

In der Schweiz leben insgesamt 46'000 vorläufig aufgenommene Personen. Ihr Asylgesuch ist zwar abgelehnt, aber weil ihre Rückkehr ins Heimatland nicht möglich, zumutbar oder nicht zulässig ist, bleiben sie hier – viele von ihnen für immer. Knapp ein Drittel der vorläufig Aufgenommenen lebt seit mehr als sieben Jahren in der Schweiz. Wer seit mehr als fünf Jahren hier lebt, kann eine Aufenthaltsbewilligung beantragen.

Sind Unterschiede überhaupt gerechtfertigt?

Zu Ende ist der Rechtsstreit um die Asylsozialhilfe im Kanton Bern mit dem Richterspruch nicht. Es ist möglich, dass eine der Parteien das Urteil ans Bundesgericht weiterzieht. Kommt hinzu, dass noch mehrere ähnliche Verfahren vor dem Verwaltungsgericht hängig sind. Wird das Urteil nicht kassiert, muss Regierungsrat Schnegg generell über die Bücher gehen.

Die Stadtberner Sozialdirektorin Franziska Teuscher (64), die seit langem die tiefen Sozialhilfebeiträge kritisiert, nimmt das Urteil mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis. Dadurch würden Unterschiede bei der Sozialhilfe je nach Aufenthaltsstatus zementiert – Unterschiede, die aus ihrer Sicht nicht gerechtfertigt sind. «Warum soll jemand, der vorläufig aufgenommen ist, tiefere Lebenskosten haben als jemand anders?», fragt sie.

Urteil könnte über Bern hinaus Folgen haben

Der Berner Entscheid könnte aber auch über den Kanton Bern hinaus Folgen haben. In vielen Kantonen gibt es noch viel grössere Unterschiede zwischen der Sozialhilfe für Einheimische und jener für vorläufig Aufgenommene – letztere Beträge gelten übrigens auch für Ukraine-Flüchtlinge mit S-Status. Ein Extrembeispiel ist Luzern: Hier haben vorläufig Aufgenommene 60 Prozent weniger für den Grundbedarf zur Verfügung als andere Sozialhilfebezüger. Gross sind die Unterschiede beispielsweise auch in Graubünden und im Aargau.

Laut Experten ist es gut möglich, dass sich gerade in diesen Kantonen – angespornt durch das Berner Urteil – nun ebenfalls Widerstand gegen die Ungleichbehandlung formiert.

Franziska Teuscher glaubt, dass der Ukraine-Krieg der Diskussion Vorschub leisten könnte: «Die Situation der Ukraine-Flüchtlinge hat manchen die Augen geöffnet, mit wie wenig diese Menschen tagtäglich auskommen müssen.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?