Schon die Bundestagswahl war ein Paukenschlag. 13 Prozent Verlust für die grosse Koalition.
Knapp hundert Sitze im hohen Haus eroberten Bürgerzorn und Bürgerohnmacht. «Isolieren», so das Kommando der Kanzlerin: Die AfD kam aus der falschen Richtung, von rechts.
Die grosse Koalition aus CDU und SPD hatte ihre erdrückende Übermacht verloren. Zwei Legislaturperioden mit einer schwächelnden 20-Prozent-Opposition aus Linken und Grünen hatten dem «System M» allen Komfort geboten.
Noch in der Wahlnacht versuchte die SPD den Salto rückwärts: Abgewählt – also raus aus der Regierung! Ein Befund, den die Kanzlerin für sich nicht gelten lassen will.
Niemand stellte die Vertrauensfrage. Die deutschen Wähler machten in der Merkeldämmerung einfach mehr Licht. Die Legendendichter lieferten die Lesart zum Desaster: «So ist es doch überall in Europa! Die Parteienklassiker gehen unter, und neue Helden klettern auf die politische Bühne. Macron in Frankreich, Kurz in Österreich.»
Der fatale Mix der Veränderer in und um Europa zeigt: Nein, es ist nicht dasselbe! In Deutschland stürmten eben keine neuen Helden auf die Bühne.
An Merkel kommt keiner vorbei. Ihr Projekt war es, überschätzt zu werden. Das gelang, weil sie schweigend abräumte, was viele von uns für unsterblich, für unverlierbar hielten: Verlässlichkeit und Transparenz. Weil sie ohne Vision und ohne Wertkonzept unterwegs war. Weil ihr niemand feste Positionen nachsagen konnte – ausser festzuhalten an der Macht.
Ein Festival des Selbstgenusses
Auch der CDU hätte schnell klar sein können: Diese Chefin braucht keine Parteien. Sie schleift die Grenzen zwischen Parteien, die früher Wettbewerber waren. Sie annektiert die Kernbotschaften ihres Regierungspartners SPD, lässt Gesetze umschreiben und Wertversprechen verschrotten. Sie toleriert marktwirtschaftliche Querschläger wie den Mindestlohn. Setzt fast unbemerkt die Wehrpflicht aus, um sie etwas später ganz abzuschaffen, schaltet Atommeiler befristet an und dann schlagartig ab und kegelt dabei ein Dutzend Gesetze vom Tisch.
2015 öffnet Merkel Europas Grenzen und inszeniert ein Festival des Selbstgenusses. Die «Willkommenskultur» wird ein Rausch der Humanitas, dem die Nachbarländer angstvoll und schadenfroh zusehen. Gesetzeswerke wie Dublin und Schengen, an denen auch die Schweiz als Partner beteiligt ist, werden geschreddert.
Die deutsche Energiewirtschaft wird verstaatlicht und nebenbei die Legende geboren, die Deutschen wollten immer mehr Staat. Das Gaukelspiel der Europäischen Zentralbank, die nur noch zum Gelddrucken und Ramschanleihenkauf da ist, sorgt für den Komfort, den Selbsttäuschungen brauchen. Unter «Rettungsschirmen» wird das verschuldete Südeuropa sozusagen kolonialisiert. EU-Delegationen reisen an und stellen klar: Das Vertragsverhältnis ändert sich. Aus Partnern werden Gläubiger und Schuldner. Nationale Finanzrechte wandern in EU-Gewalt. George Soros kommentiert lapidar: «Der Anfang der Spaltung Europas.»
Wer wissen will, wie EU-Europa verlernt hat, an sich selbst zu glauben, wer die tiefere Wahrheit im Ausstieg der britischen Wähler erkennen möchte, der muss auf diese Jahre zurückschauen. Deutschland profitiert bis heute von der trügerischen Sonne, die Herr Draghi blankputzt, es profitiert von Nullzinsen und lebt – im Gegensatz zu den Südeuropäern, für die er hoffnungslos überbewertet ist – mit einem traumgenau passenden Euro.
Schwere Verwerfungen in der Konsenskultur
Das System Merkel konnte gut anderthalb Jahrzehnte beobachtet werden. Es wurde ziemlich bald klar, dass die Regentin Parteien eigentlich nicht brauchte. Dass sie das Parlament, wo immer möglich, mit strittigen Entscheidungen gar nicht erst befasste. Die Wahl vom 24. September zeigte schwere Verwerfungen in Deutschlands Konsenskultur. Die Chefetage in Berlin kümmert sich vor allem darum, die wahren Botschaften des Souveräns, des Wahlbürgers, unlesbar zu machen.
Die Sozialdemokraten wollen es nun besser machen. Raus aus dem Bündnis mit der quasi parteilos regierenden CDU-Chefin. Nur Tage später wurde der U-Turn eingeleitet: zurück ins alte, verlorene Spiel.
Die Merkelopfer einer früheren Ära aber, die Freien Demokraten, haben ihre Atempause nach der Abwahl 2013 brillant verarbeitet. Sie waren dabei, als die «Jamaika-Sondierung» mit den schwerversehrten Schwestern CDU und CSU sowie den Grünen eröffnet wurde. Der politische Ramschladen wollte Jamaika heissen, weil «Schwarz-Gelb-Grün» einfach keine Aura lieferte. Es kam die Stunde der Wahrheit, mit der in der Merkelrepublik niemand rechnete: Die Parteien beherrschen den politischen Disput nicht mehr. Sie haben es verlernt, sich als Wettbewerber zu fühlen, die um beste Lösungen kämpfen, statt nur um faule Kompromisse.
Die Jamaika-Community – diese Diagnose ist bis heute im Lande mit einem Tabu belegt – ist vom Virus der merkelschen Politik befallen. Die Verhandelnden schafften beides nicht mehr: weder Debatte noch Einigung. Nur der Frischeste unter den Teilnehmern, soeben erst aus der ausserparlamentarischen Wildnis zurückgekehrt – Christian Lindner von der FDP –, bemerkte das dramatische Defizit, das Fehlen jeder Vision für Deutschland. «Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren» lautete das Fazit des FDP-Chefs. Jamaika war damit geplatzt.
Deutschland will lieber an der eigenen Fassade arbeiten
Aber Deutschland will seine Lektion nicht lernen. Es will lieber an der eigenen Fassade arbeiten, die Germany draussen so gross erscheinen lässt.
Unter Merkel wurde schlecht umgegangen mit dem demokratischen Parteienstaat. Denn der gehört eigentlich den Bürgern – wie auch Europa den Bürgern gehören sollte. Deutschlands Wirtschaftsboom kann nicht liefern, was die Bürger der Europäischen Union zu Vertrauenspartnern machen könnte: Versprechen halten, Schutz gewähren, Freiheit verteidigen. So etwas gelingt den Mächtigen nur mit Demut.
Die politische Führung nimmt hin, dass sie international überschätzt wird. Im Hinblick auf ihre Werte ist sie ein Scheinriese. Reden ersetzt nicht Handeln. Zu den Toten auf den Fluchtwegen und bei Terroranschlägen in Deutschland zählen auch die Opfer einer illusionären Politik. Doch dieses Land hat das Trauern verlernt. l
* Gertrud Höhler ist Verfasserin des Buches «Die Patin. Wie Angela Merkel Deutschland umbaut». Soeben von ihr erschienen: «Demokratie im Sinkflug: Wie sich Angela Merkel und EU-Politiker über geltendes Recht stellen», FinanzBuch Verlag.
Seit dem Scheitern der Jamaika-Koalition haben sich einer Umfrage zufolge in der Wählergunst leichte Veränderungen ergeben. Zulegen konnten demnach FDP, Grüne, Linke und die SPD. Auf niedrigere Werte hingegen kamen Union und AfD.
Die FDP würde auf zwölf Prozent kommen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, wie aus einer am Freitag veröffentlichten Insa-Umfrage im Auftrag des Nachrichtenmagazins «Focus» hervorgeht. Das wären 1,3 Prozentpunkte mehr als bei der Bundestagswahl am 24. September.
Grüne und Linke liegen je bei zehn Prozent, was ebenfalls eine Verbesserung wäre. Auch die SPD kann mit 21 Prozent 0,5 Punkte zulegen. Auf etwas niedrigere Werte als bei der Wahl kommen in der Sonntagsfrage dagegen die Union mit 32 Prozent und die AfD mit zwölf Prozent. (SDA)
Seit dem Scheitern der Jamaika-Koalition haben sich einer Umfrage zufolge in der Wählergunst leichte Veränderungen ergeben. Zulegen konnten demnach FDP, Grüne, Linke und die SPD. Auf niedrigere Werte hingegen kamen Union und AfD.
Die FDP würde auf zwölf Prozent kommen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, wie aus einer am Freitag veröffentlichten Insa-Umfrage im Auftrag des Nachrichtenmagazins «Focus» hervorgeht. Das wären 1,3 Prozentpunkte mehr als bei der Bundestagswahl am 24. September.
Grüne und Linke liegen je bei zehn Prozent, was ebenfalls eine Verbesserung wäre. Auch die SPD kann mit 21 Prozent 0,5 Punkte zulegen. Auf etwas niedrigere Werte als bei der Wahl kommen in der Sonntagsfrage dagegen die Union mit 32 Prozent und die AfD mit zwölf Prozent. (SDA)