Verschärfte Asylpolitik
Wie die Schweiz einen kranken Jungen ausschaffte

Bundesrat Beat Jans gab kürzlich steigende Rückführungszahlen von Asylsuchenden bekannt. Die Schweiz schickt dabei auch kranke Kinder zurück. Das Beispiel des zehnjährigen Gildas, der an einer schweren Krankheit leidet – und nun in Kroatien lebt.
Publiziert: 10:17 Uhr
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Aktualisiert: 11:30 Uhr
Ende Oktober 2024 erlitt Gildas in der Schule in Altstätten SG einen Anfall. Er wurde ins Spital eingeliefert.

Auf einen Blick

  • Kranker Junge nach Kroatien abgeschoben, Familie hofft auf humanitäres Visum
  • Gildas leidet an Sichelzellenanämie, Behandlung in Kroatien riskant
  • Der Junge wurde während einer Behandlung im Spital in St. Gallen ausgeschafft
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Camille Krafft

Die Ausschaffung fand am 19. November in den frühen Morgenstunden statt. Die Polizisten stürmten das Asylzentrum in Altstätten SG. Der zehnjährige Gildas* bereitete sich gerade für die Schule vor. Der Bub aus der Demokratischen Republik Kongo wusste nicht, dass am Flughafen Zürich ein Charterflug auf ihn wartete, um ihn, seinen zweijährigen Bruder und seine Eltern nach Zagreb, Kroatien, zurückzufliegen.

Die Familie gehört zu den «Dublin-Fällen»: Sie waren in Kroatien registriert worden, als sie versuchten, von Serbien nach Westeuropa zu gelangen. Zwar führte sie die Reise in die Schweiz. Von dort aus wurde die Familie nun aber wieder nach Kroatien zurückgeschickt. Dorthin also, wo sie zuerst registriert worden waren. 

Im Falle von Gildas war dies heikel: Der gesundheitlich angeschlagene Junge wurde im Kinderspital in St. Gallen betreut. Gildas leidet an Sichelzellenanämie, einer genetischen Erkrankung der roten Blutkörperchen. Der Junge erlebt regelmässig sehr schmerzhafte Anfälle. Die Komplikationen der Sichelzellenanämie können tödlich sein. Bluttransfusionen sind eine wichtige Behandlungsmethode für die Krankheit. 

«Ich wusste, dass ihre Situation in der Schweiz nicht stabil war, aber ich hatte keine Ahnung, dass diese Rückführung geplant war», sagt Heinz Hengartner, Chefarzt der Abteilung für Onkohämatologie am Kinderspital St. Gallen. «Ich hätte mir gewünscht, dass das Krankenhaus im Vorfeld von den Behörden informiert worden wäre, dass man uns gefragt hätte, wie wir diese Ausreise vorbereiten sollten. Aber nichts davon wurde getan.»

Risiko einer schweren Transfusionsreaktion

An einem trüben Januarnachmittag trafen wir in einem Café in Zagreb den Adoptivvater von Gildas. 

Gildas' Vater möchte seine Anonymität und die seines Sohnes wahren.

Er ist ein ängstlicher Mann, der sich um den Gesundheitszustand seines ältesten Sohnes Sorgen macht. Am 6. Februar bestätigte das Zagreber Spital, in dem der Junge behandelt wird, schriftlich: Gildas laufe Gefahr, schwere Komplikationen zu erleiden, wenn er in Kroatien bleibt. In der Zwischenzeit häuften sich seine Anfälle. Das Krankenhaus rate der Familie, in einen Staat zu reisen, in dem es «mehr potenzielle Blutspender afrikanischer Herkunft» gibt, und empfehle, ein humanitäres Visum zu beantragen.

Die Übersetzung (via google translate) des Dokuments aus dem Krankenhaus in Zagreb.

Zwei negative Entscheide

Dem Vater war bewusst, dass zuletzt auch das Bundesverwaltungsgericht nicht auf das Asylgesuch eingetreten war. Doch er hoffte, dass die Abschiebung aufgrund des Gesundheitszustands seines Sohnes nicht vollzogen würde. 

«
J’aurais aimé que l’hôpital soit informé en amont, qu’on nous demande comment préparer ce départ. Mais rien de cela n’a été fait. Les gens disparaissent du jour au lendemain, et on n’entend plus parler d’eux
Heinz Hengartner, hôpital pour enfants de Saint-Gall
»

Denn vom 23. September bis zum 3. Oktober 2024 war Gildas wegen eines Anfalls ein erstes Mal in St. Gallen hospitalisiert worden. Am 25. September, nachdem sich sein Zustand mit Atembeschwerden verschlechtert hatte, wurde bei einer Röntgenaufnahme eine Herzvergrösserung festgestellt. Nach einer Bluttransfusion konnte Gildas allerdings aus dem Spital entlassen werden.

Gildas während seines Krankenhausaufenthalts in St. Gallen.

Warum kam es dennoch zur Ausschaffung? In seinem negativen Asylentscheid zitiert das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Rechtsprechung: Die Ausschaffung sei nicht unzumutbar, wenn im Zielland eine medizinische Behandlung verfügbar sei, die nicht den Schweizer Standards entspreche. Die Schweiz geht zudem davon aus, dass Kroatien aufgrund der von allen Dublin-Staaten unterzeichneten EU-Richtlinien in der Lage ist, «eine angemessene medizinische Versorgung zu gewährleisten».

Keine Einholung von Auskünften im Zielland

Mit anderen Worten: Die Schweiz erkundigt sich in der Regel nicht weiter über die spezifischen Behandlungsmöglichkeiten im Dublin-Staat, in den ein Kranker zurückgeschickt wird – auch nicht über die Unterbringungs- und Betreuungsbedingungen. Ist der Entscheid einmal gefallen, ist für die Behörden vor allem die Reisefähigkeit der weggewiesenen Person ausschlaggebend.

In der Schweiz und in Kroatien bestätigen mehrere NGOs, Vereine und Juristen, die Blick in den letzten Wochen kontaktiert hat, dass die Schweiz zunehmend schutzbedürftige Personen, darunter auch kranke Kinder, nach Zagreb zurückschickt. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) antwortet auf eine entsprechende Frage, dass «medizinische Probleme nicht statistisch erfasst werden».

«Am Morgen der Abschiebung fühlte sich Gildas nicht gut und hatte Schwierigkeiten beim Gehen», berichtet sein Vater. Der Arzt, der die Zwangsausschaffung begleitete, habe ihm mehrmals Schmerztabletten gegeben. Das Migrationsamt des Kantons St. Gallen gibt an, dass eine Vertretung der Eidgenössischen Kommission gegen Folter bei der Abschiebung anwesend gewesen sei.

Stress kann einen Anfall auslösen

Laut mehreren von Blick kontaktierten Spezialisten ist Stress einer der Auslöser für die Sichelzellenanämie typischen Gefässblockaden und Schmerzanfällen. Darüber hinaus ist ein Flug ein bekanntes Risiko aufgrund der Anfälle, die jederzeit auftreten können. «Für eine Person mit Sichelzellenanämie ist es besser, mit dem Auto, dem Bus oder dem Zug zu reisen», sagt Arzt Heinz Hengartner. «Und vor allem muss sichergestellt sein, dass der Kranke während des Fluges ausreichend Flüssigkeit erhält.» Dies sei nicht geschehen, so der Vater des Jungen. 

Nach ihrer Ankunft in Kroatien sei die Familie in ein Zentrum für Asylsuchende geschickt worden, das 80 Kilometer von Zagreb entfernt liegt. «Wir wurden zunächst in einem Container untergebracht», berichtet der Vater. «Kroatien wusste von unserer Rückkehr, aber nicht von dem Rest. Sie hatten keine Krankenakte.» Die Ärzte wussten demnach nichts über den Zustand des Jungen oder erfolgte Behandlungen. SEM-Sprecherin Anne Césard erklärte auf Anfrage, dass «es keine rechtlichen Regeln gibt, wie dieser Informationsaustausch ablaufen soll».

A l'intérieur du centre
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Images peu ragoûtantes:A l'intérieur du centre

Nach ersten Abklärungen wurde Gildas nach Zagreb gebracht, wo er von Spezialisten betreut wurde. Inzwischen musste er wegen eines erneuten Anfalls für eine Woche ins Spital eingeliefert werden. Nun will sich die Familie erneut an die Schweiz wenden, um ein humanitäres Visum oder eine erneute Prüfung ihres Falls zu beantragen. Ausserdem prüft sie die Möglichkeit, in ein anderes europäisches Land zu reisen, um Gildas bestmöglich zu versorgen.

*Name der Redaktion bekannt 

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