1984 gründete der Sekundarlehrer Roger Staub (60) die Aids Hilfe Schweiz mit. 1987 ging er zum Bundesamt für Gesundheit (BAG) und wurde zum Vordenker der Präventionskampagnen. Ab 2002 leitete Staub die Sektion HIV und Aids beim BAG. Seit 2017 ist er Geschäftsführer der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für psychisch beeinträchtigte Personen in der Schweiz einsetzt.
BLICK: 2016 haben sich 542 Menschen in der Schweiz mit HIV angesteckt und einen Test gemacht. Was läuft falsch in der Prävention?
Roger Staub: 500 Fälle pro Jahr sind viel weniger als früher. Aber wenn es uns ernst wäre mit der Prävention, könnte man die Zahl halbieren. Das Budget des Bundes von zwei Millionen Franken ist das absolute Minimum, um eine Kampagne zu fahren, mit der man nationale Sichtbarkeit erreicht. Die Bevölkerung kennt zwar die Botschaften von «Stop Aids» und «Love Life». Aber aus dem gleichen Grund, warum Coca-Cola immer noch und regelmässig Werbung macht, muss jedes Jahr eine Anti-Aids-Kampagne an den Wänden dieses Landes hängen.
Haben die Schweizer zu wenig Angst vor Aids und HIV?
Angst ist ein schlechter Ratgeber. Einsicht sollte zu rationalem Verhalten führen. Man könnte mehr Leute zu dieser Einsicht zu bringen.
Meine Generation – Jahrgang 87 – ist mit dem Mantra «Nie ohne, alles andere ist Selbstmord!» aufgewachsen. Die Aidsaufklärung war zentral im Sexualunterricht. Keinen Gummi zu brauchen, war verpönt. Laut einer neuen Studie soll nun fast die Hälfte der Schweizer Jugendlichen beim Sex kein Kondom benutzen.
Weil die Kampagnen kaum mehr sichtbar sind, haben die Leute das Gefühl, HIV sei kein Problem mehr. In den Jahren, in denen wir die grossen Kampagnen gefahren haben, wusste der Hinterletzte Bescheid. Es gab ein kollektives Bewusstsein. Wenn der Bund will, dass die Ansteckungszahlen sinken, muss er endlich wieder deutlich sagen: Wir haben noch immer ein Problem mit dem Aidsvirus in diesem Land. Es muss in Schulen, Familien und im Freundeskreis darüber gesprochen werden, was es effektiv bedeutet, HIV-positiv zu sein.
Es gibt doch so gute Aidsmedikamente. Ein HIV-Positiver könne ein normales Leben führen, denken viele. Genau vor zehn Jahren verkündete das BAG, dass HIV-Infizierte nicht ansteckend sind, wenn sie korrekt behandelt werden. Ist das eine Scheinsicherheit?
Nein. Es stimmt, wenn der Infizierte keine Tablette vergisst. Zum Glück gibt es diese Medikamente, aber ein Leben ohne HIV ist trotzdem besser und einfacher. Und vor allem nicht so teuer: Die Medikamente kosten pro Jahr 20'000 bis 25'000 Franken. Wenn sich jemand mit 30 ansteckt, braucht er 40 bis 50 Jahre lang diese Medikamente – das macht dann eine Million Franken pro Fall. Darum sage ich: 500 Neuinfektionen sind nicht viel, aber es gibt Bereiche in unserer Gesellschaft, die freuen sich darüber. HIV ist heute ein Geschäft.
Das ist zynisch.
Nein! Wieso werde ich als Zyniker dargestellt? Das ist einfach Fakt. Wieso will die Schweiz Tabakwerbung nicht verbieten?
Weil sich damit auch Geld verdienen lässt.
Eben. Warum ist der Gewerbeverband generell gegen Prävention? Weil man mit vielem, das die Leute eigentlich nicht tun sollten – Alkohol, Rauchen, viel Zucker –, richtig Geld machen kann. Und in einer solchen Welt muss man nicht meinen, dass die Pharmabranche einfach däumchendrehend zuschaut, wie Neuansteckungen verhindert werden. Natürlich sagen sie, sie wären für Prävention. Aber das glaube ich nicht. Die haben überhaupt kein Interesse daran, dass das BAG bessere Prävention macht.
Als Sie die Aids-Hilfe 1985 gründeten, war man ratlos. Es gab noch keine Forschung und Hoffnung auf Medikamente.
Die ganze Aidsgeschichte wäre völlig anders gelaufen, wenn die Medizin etwas dagegen hätte tun können. Aber weil die Hilflosigkeit da war und eine Aidsdiagnose bedeutete, dass man spätestens in zwei Jahren tot ist, hat man das Feld uns überlassen. Es war schmuddelig. Ich weiss von Ärzten, denen man sagte: Wenn du dich mit Aids beschäftigst und dich auf dem Feld profilierst, ist das schädlich für deine Karriere. Der renommierte Arzt Ruedi Lüthi ist wohl auch wegen seinem Fokus auf HIV nicht der Nachfolger seines Chefs, des Leiters für Innere Medizin am Unispital Zürich, geworden.
Kritiker nennen das eine Verschwörungstheorie.
Man weiss heute, dass und wie die Tabakindustrie die Strukturen der Weltgesundheitsorganisation WHO infiltriert und beeinflusst hat. Warum soll die Pharmaindustrie nicht auch ihre Interessen verfolgen? Natürlich sind die schlau und machen es verdeckt. Ich hatte nie einen direkten Kampf mit der Pharmaindustrie. Ich weiss aber, dass Champagner getrunken wurde, als die hörten, dass ich weg bin. Lobbyisten versuchten, im Parlament und beim BAG-Direktor Stimmung gegen die «Stop Aids»-Kampagne zu machen. Es koste nur und bringe nichts. Das Problem ist: Mit dem Status quo leben alle gut. Das BAG macht etwas Aufklärung, man hat sich mit 500 Neuansteckungen pro Jahr arrangiert, die Pharmabranche und diebMedizin leben gut davon, und selbst Betroffenen geht es gut – solange sie keine Tablette vergessen und keine Nebenwirkungen haben.
Heute nehmen auch gesunde schwule Männer HIV-Medikamente. Damit kann man ungeschützten Sex haben und ist vor Ansteckung geschützt. Das Kondom wird sozusagen mit einer Pille ersetzt. Ist das nur eine Randerscheinung oder ein Massenphänomen?
Die Präexpositionsprophylaxe – Prep genannt – ist Big Business. Die Botschaft der Pharmaindustrie ist klar: Wenn du Prep nimmst, steckst du dich nicht an. Das stimmt. Aber welchen Sinn hat es? Mit Prep läuft derzeit das Gleiche wie damals mit der Anti-Babypille, das Kondom wird durch die Pille ersetzt. Man versucht, eine teure, chemische Prophylaxe mit erwiesenen Nebenwirkungen unter die Leute zu bringen. Und dies mit der Marketingbotschaft: Das Leben ist viel einfacher mit Prep. Es befreit dich. Und weil die Preise in der Schweiz so hoch sind, gibt es längst einen Schwarzmarkt. Jetzt lässt man dieses Prepzeug aus Indien kommen. Dort sind die Medikamente, die hier 25’000 Franken kosten, viel günstiger. Und das ist längst nicht nur unter jungen Schwulen verbreitet. Dank Viagra nehmen auch viele ältere Prep.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie mit diesem Wissen 30 Jahre zurückblicken?
Hm. Wir waren damals konfrontiert mit Unwissen, Diskriminierung und mussten mehrmals pro Monat an eine Beerdigung. Aids hat eine ganze Generation schwuler Männer ausgelöscht. Ich hatte wohl Glück, weil ich scheu und kompliziert war. Die ersten Jahre Aids-Hilfe waren aber auch von einem unglaublichen Tempo geprägt: Einer hatte eine Idee, und schon ein paar Wochen später war die Idee umgesetzt. Und wir waren ziemlich mutig!
Ihren ersten Aidstest machten Sie an einem Küchentisch in Berlin. Sie gründeten die Aids-Hilfe Schweiz mit, während Sie auf das Resultat warteten.
Rückblickend war diese Angst, ich könnte auch angesteckt sein, mein Antrieb zu sagen: Jetzt müssen wir etwas unternehmen! Sonst hätte ich mich nicht darauf eingelassen. Ich hätte mir wirklich ein einfacheres Leben vorstellen können.
Nach 30 Jahren Aidsarbeit und 15 Jahren beim Bund haben Sie letztes Jahr aufgehört. Sind Sie sauer aufs BAG?
Nein, 30 Jahre sind wirklich genug, und das BAG hat schliesslich vieles zugelassen. Ich hatte einen super Job. Es wurden keine Plakate gedruckt, die ich nicht wollte. Allerdings auch nicht ganz alle, die ich wollte ...
Zum Beispiel die 1000 Nackten auf dem Bundesplatz. Sie wollten sie vom US-Starfotografen Spencer Tunick ablichten zu lassen.
Das war dem Bund dann doch zu heiss. Es wäre genial gewesen. Die Idee fand den Weg zu Greenpeace, und am Schluss standen 1000 Nackte auf einem Gletscher.
Warum sind Sie denn gegangen beim BAG?
Ich fragte mich, ob ich mit diesem Thema pensioniert werden will. Dann wechselte ich in die Gesundheitspolitik, in zwar spannende Themen, aber ohne Entscheidungskompetenzen. Da fehlte mir was. Mein neuer Job bei Pro Mente Sana ist wunderbar. Hier spüre ich eine vergleichbare Aufbruchstimmung wie damals, als wir die Aids-Hilfe gründeten. Heute ist der psychische Druck auf uns alle so hoch, dass immer mehr Leute daran scheitern. Pro Jahr erlebt jeder fünfte Schweizer eine Form von psychischer Störung, oft behandlungsbedürftig. Und niemand spricht darüber, weil das Thema tabuisiert ist. Da muss etwas dagegen getan werden! Ich finde es super: Ich kann hier brauchen, was ich gelernt habe. Ich verspreche Ihnen, man wird von uns hören.