Noch grösser als die Hilflosigkeit war nur die Empörung. Vor anderthalb Jahren, im Dezember 2018, mussten Grüne und Linke mit ansehen, wie die knappe Mehrheit aus SVP und FDP im Nationalrat in der Debatte um das CO2-Gesetz ihre Linie durchdrückte. Und die Vorlage Absatz um Absatz verwässerte. Am Ende lehnte das linksgrüne Lager die Vorlage enttäuscht ab, in der Erwartung, dass der Ständerat korrigierend eingreifen würde. Und in der Hoffnung auf neue Mehrheitsverhältnisse nach den Wahlen.
Doch was als Nächstes passieren würde, davon hätten die Grünen kaum zu träumen gewagt. Inspiriert von einem schwedischen Teenager zogen Tausende Jugendliche durch die Strassen, um bei Wind, Regen und Sonnenschein für ein Anliegen zu demonstrieren, das längst bekannt, aber wenig sexy und deshalb von der Politik erfolgreich ignoriert worden war: der Klimawandel. Oder, mit den Worten der Jugendlichen: die Klimakatastrophe.
Die Klimademos gipfelten 2019 in einer grünen Welle. Die Grünen legten bei den Wahlen um 6,1 Prozent zu und verdreifachten ihre Sitze im Parlament von zwölf auf 33. Es war ein Aufstieg, wie es ihn in der Schweiz noch nie gegeben hatte. Und von dem selbst die Grünen überrumpelt waren.
Diese Woche, knapp neun Monate später, kann die Partei nun die ersten Früchte ihres Wahltriumphs ernten: Der Nationalrat hat ein neues CO2-Gesetz verabschiedet. Dieses sieht eine Flugticketabgabe vor, einen Aufschlag auf den Benzinpreis um bis zu zwölf Rappen sowie eine Emissionsreduktion im Inland von mindestens 75 Prozent. Alles Vorschläge, die im alten Parlament niemals durchgekommen wären.
Meinung der Grünen hat Gewicht
Dementsprechend aufgeräumt spazierte Nationalrat Balthasar Glättli (48, ZH) am Donnerstag durch die geräumigen, manche sagen «gesichtslosen» Berner Expohallen, wo das Parlament derzeit im Exil tagt. In jenen Hallen also grinst Glättli angesichts der soeben erfolgten Abstimmung zufrieden vor sich hin und nennt das CO2-Gesetz einen «wichtigen Etappenerfolg». Nur um sogleich nachzuschieben, dass die aktuelle Vorlage nicht ausreiche, denn: «Um die Pariser Klimaziele zu erfüllen, braucht es doppelt so grosse Anstrengungen.»
Damit bringt der langjährige Fraktionspräsident, der ab kommendem Samstag neuer Parteichef und derzeit glücklich funktionslos unterwegs ist, das Dilemma der Grünen auf den Punkt: Die Partei ist so mächtig wie noch nie in ihrer knapp 40-jährigen Geschichte – und bleibt dennoch in der Opposition.
Ihre neu gewonnene Macht zeigt sich darin, dass die nationalrätliche Fraktion der Grünen grösser ist als jene der FDP; ein Gedanke, an den sich selbst Glättli gewöhnen muss. Und dass sie im linken Lager nicht mehr ewiger Juniorpartner ist, sondern mit einem Wähleranteil von 13,2 Prozent in Sichtweite der Sozialdemokraten mit ihren 16,8 Prozent.
Auf einmal hat die Meinung der Grünen deshalb Gewicht. Das zeigt sich in den parlamentarischen Kommissionen, wo die Grünen nicht mehr nur einen, sondern bis zu vier Vertreter stellen. Statt wie einst alleine auf verlorenem Posten zu stehen, nehmen die Grünen-Nationalrätinnen und -Nationalräte nun Einfluss auf die Debatte. Wie im Falle der Corona-Hilfen für Geschäftsmieten, wo eine Einigung ohne die Grünen nicht möglich geworden wäre, wie Parteipräsidentin Regula Rytz (58, BE) festhält. «Wir haben den Kompromiss gegen Kritik von links verteidigt und ihn erfolgreich in den Ständerat getragen», sagt Rytz.
Am Ende geht es um Macht
Zudem ist die Partei 2019 im Ständerat auf Gruppengrösse angewachsen. «Dadurch können wir die Möglichkeiten des Zweikammernsystems voll ausschöpfen», so Rytz. «Das heisst: Mal speisen wir Lösungen über den Ständerat ein, mal sehen wir im Nationalrat die besseren Chancen.»
Auch Verbände und Verwaltung interessieren sich plötzlich für die Meinung der Grünen-Parlamentarier und lobbyieren um ihre Stimmen, wie Fraktionspräsidentin Aline Trede (36, BE) belustigt feststellt. «Beim Corona-Hilfspaket für den Sport zum Beispiel stellte ich der Verwaltung einige kritische Fragen», erinnert sich Trede. «Daraufhin haben sie mich eingeladen, um sich zu erklären.» Früher hingegen, so die Bernerin, «hätte die Verwaltung vielleicht einfach ‹vergessen›, meine Fragen zu beantworten.»
Doch sind die Grünen weiterhin keine Partei wie alle anderen. Ihnen fehlt der Zugang zur Spitze, zum Bundesrat. Besonders schmerzlich wurde das den Parlamentariern während des Lockdowns bewusst, als die Landesregierung am Laufmeter Entscheide im Alleingang fällte. Während andere Parteien über die Verwaltung informell Informationen einholen konnten, blieb den Grünen dieser Kanal versperrt. Aber auch im politischen Alltag hilft der erleichterte Zugang zur Administration: Es ist weit effektiver, ein Geschäft in der Anfangsphase zu beeinflussen, als im Parlament auf der Ziellinie noch Änderungen einbringen zu wollen.
Das Fehlen eines eigenen Bundesrats will Glättli angehen. «Wir werden bei jeder Vakanz im Bundesrat über die Bücher gehen und eine Kandidatur prüfen» , sagt er. Um anzufügen, dass er persönlich bei keiner Bundesratswahl antreten werde. «Die Partei aber wird nun in einer Art Taskforce dafür sorgen, dass wir für den Fall von Vakanzen sofort auf drei, vier qualifizierte Kandidatinnen und Kandidaten zurückgreifen können.» Die Nichtvertretung der Grünen im Bundesrat zu korrigieren, sei eines der Ziele seiner Präsidentschaft. Dabei weiss Glättli zumindest die Statistik auf seiner Seite. Denn seit dem Bestehen der Zauberformel hat die Zusammensetzung des Bundesrats die Bevölkerung noch nie so schlecht repräsentiert: Derzeit sind ganze 31 Prozent der Wähler nicht in der Regierung vertreten.
Aber eben, am Ende geht es in Bern nicht um Mathematik, sondern um Macht. Das weiss auch Glättli. Nebst dem Bundesratssitz nennt er denn auch weitere Ziele: Neben dem Kernthema Umwelt möchte er etwa einen Schwerpunkt auf die Digitalisierung legen. Ein Bereich, bei dem im Parlament mindestens so viel Durchhaltevermögen gefragt ist wie bei der Bundesratsfrage. Es wird aber Letztere sein, an der sich die Ära Glättli wird messen lassen müssen. Die Chance der Grünen ist historisch. Die Fallhöhe auch.