Von wegen karibisch-entspannte Stimmung in Berlin. Die Uhr tickt. Innert 48 Stunden müssen sich die Unterhändler der angestrebten «Jamaika»-Koalition auf die Grundsätze eines gemeinsamen Regierungsprogramms geeinigt haben. Schon am Wochenende sollen dann Parteigremien und Basis mit der Diskussion über den erzielten Kompromiss beginnen. Erst wenn dort den Ergebnissen der Sondierungsgespräche zugestimmt wird, können die wirklichen Koalitionsverhandlungen beginnen.
Seit Anfang Woche haben die Parteispitzen die Gesprächsführung an sich gezogen. Denn in den vergangenen drei Wochen sind zwar viele Themen abgearbeitet worden. Doch jetzt geht es ans Eingemachte: Die Ausrichtung der künftigen Verkehrs- und Energiepolitik, die Klimaziele und der Plan einer Steuerreform, die Eckpunkte der inneren Sicherheit und natürlich die Flüchtlingsfrage – hier liegen die Positionen kurz vor Ablauf der Sondierungsgespräche noch weit auseinander.
Scheitern von «Jamaika» würde AfD helfen
Dabei wissen alle: Ein Scheitern der Verhandlungen wäre ein Albtraum, nicht nur für die «Jamaikaner»: Dann müssten die Deutschen nach der Bundestagswahl am 24. September wohl ein zweites Mal an die Urnen gerufen werden. Die einzig mögliche andere Regierungsvariante – eine Neuauflage der Grossen Koalition – ist von den Sozialdemokraten bereits abgelehnt worden.
Die Umfragen der letzten Tage sind eindeutig: Von einer Neuwahl profitieren würde wohl nur die rechtspopulistische «Alternative für Deutschland» (AfD), die schon aus der Septemberwahl als drittgrösste Fraktion im Deutschen Bundestag hervorging. Jamaika, so benannt nach den Parteifarben der angestrebten Koalition, ist ein grosses politisches Experiment. Dass die Christdemokraten (CDU), die Christsozialen (CSU), die Liberalen (FDP) und Das Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam regieren wollen, hat es in Berlin noch nie gegeben. Vor allem die kleineren Parteien fürchten um ihr Profil. Dementsprechend hoch sind die programmatischen Hürden.
Grosse inhaltliche Differenzen
Die Grünen etwa: Sie fordern feste Zeitpunkte für das Ende der Kohlekraftwerke und des Verbrennungsmotors. Ohne ein Einwanderungsgesetz wollen sie bei «Jamaika» nicht mitmachen. Nicht verhandelbar ist für sie auch der zurzeit ausgesetzte Angehörigen-Nachzug bereits in Deutschland lebender Flüchtlinge. Die Liberalen wollen vom Ende des Kohleabbaus ebenso wenig wissen wie von einer grundsätzlichen Umkehr in der Verkehrspolitik. Sie beharren auf Steuer- und Verwaltungsreformen und können sich höchstens kleine Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik vorstellen.
In diesem Punkt wiederum wollen CDU und CSU nicht nachgeben. Nach wie vor schrecken die christlichen Parteien vor einem Einwanderungsgesetz zurück. Auch von der Familienzusammenführung von Kriegsflüchtlingen wollen sie nichts wissen. Ihr Argument: Die Menschen, die aus den Kriegsgebieten nach Deutschland kamen, sollen so schnell als möglich in ihre Heimatländer zurückkehren. Da ist der Druck zur Rückkehr grösser, wenn die Angehörigen nicht nachgeholt werden dürfen.
CSU strebt Rechtsruck an
Bei den Konservativen ist vor allem die bayerische CSU der Bremser. Parteichef Horst Seehofer steht seit dem miserablen Wahlergebnis im September zunehmend unter Druck. Im kommenden Jahr wird in München ein neuer Landtag gewählt. Seehofer und seine Getreuen glauben, die verlorenen Wähler nur über einen deutlichen Rechtsruck in der Bundespolitik zurückgewinnen zu können. Sollte diese Position in einer «Jamaika»-Koalition nicht erkennbar sein, müsste Seehofer auf dem CSU-Parteitag im Dezember wohl um seine Ämter fürchten.
Wie all diese kontroversen Themen innert 48 Stunden so geklärt werden können, dass die Parteimitglieder mit den Ergebnissen leben können, ist völlig unklar. Nur eines steht fest: Viel Schlaf werden die Unterhändler bis Freitagnachmittag nicht bekommen.