Regierungen liefern sich einen Wettlauf
Das steckt hinter Europas neuer Asylhärte

Das Asylproblem ist der Fetisch von Europas Politik. Das lenkt von anderen Versäumnissen ab.
Publiziert: 08.07.2018 um 00:46 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 16:51 Uhr
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Letzte Woche einigten sie sich im Asylstreit: (v.l.) Der deutsche Innenminister Horst Seehofer, der österreichische Kanzler Sebastian Kurz und sein Vize Heinz-Christian Strache.
Foto: Keystone
Reza Rafi

Karl Marx gilt als verstaubt, vergilbt und überholt. Der Gegensatz zu Sebastian Kurz könnte nicht grösser sein. Der österreichische Regierungschef mit dem jugendlichen Gesicht ist Europas Politiker der Stunde. Umso bemerkenswerter ist, was der Kanzler mit der Gelfrisur diese Woche geschafft hat – er bringt eine These aus der linken Klamottenkiste in Erinnerung: Nach dieser bewirtschaftet die Elite Ressentiments gegen Minderheiten, um die Arbeiterschicht zu spalten und schuften zu lassen.

Genau diesem Muster scheint Kurz' Politik – eine Mischung aus Migrationskritik und Wirtschaftsliberalismus – derzeit zu folgen. Für diese Beobachtung muss man kein rotverbrämter Ideologe sein. Für die Öffentlichkeit ist das diese Tage so greifbar geworden wie das glatte Antlitz des 31-Jährigen.

So liefern sich der Kanzler und sein Vize, FPÖ-Mann Heinz-Christian Strache, mit dem deutschen Innenminister Horst Seehofer (CSU) einen Wettlauf um die härteste Asylpolitik. Am Donnerstag kam es in Wien zum Schaulaufen; stolz wurde ein Pakt mit den Plänen für «Transitzentren» verkündet.

Der Notstand wird beschworen – trotz gegenteiliger Trends

Dass der Asylstrom auf dem tiefsten Stand seit 2015 und die Balkanroute geschlossen ist, hält die Minister nicht davon ab, voll auf die Flüchtlingskarte zu setzen: Trotz gegenteiliger Trends wird der Notstand beschworen. Die Schweiz kennt das von der SVP-«Asylchaos»-Rhetorik.

Nun ist das nur die eine Hälfte des österreichischen Coups. Die andere ist ein politischer Geniestreich: Zeitgleich zum Asyltheater kommuniziert die Regierung Kurz den Zwölfstundentag – Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im östlichen Nachbarland sollen künftig länger malochen dürfen.
Doch die Öffentlichkeit labt sich längst am «Asylstreit». Die Arbeitgeber wirds freuen. Und der kommunistische Vordenker mit dem Nikolausbart würde sich bestätigt fühlen.

Der Vorgang ist bezeichnend für den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union: Der Kontinent steht täglich vor dem gefühlten Abgrund, seine Politiker wandeln im Apokalypse-Modus – obwohl die Wirtschaft brummt. Das deutsche Bruttoinlandprodukt ist so gross wie nie. Die Arbeitslosigkeit ist europaweit auf dem Tiefststand seit 2008, wie neuste Zahlen von letzter Woche zeigen. Von Athen bis Amsterdam steigt die Beschäftigung.

Die Politiker lenken von ihrem Versagen ab

Auch wenn die Migration unbestritten reale Probleme bringt – das Asylthema ist zum Fetisch von Europas Politikern geworden, die mit ihrer Spiegelfechterei um Wähler buhlen und die europäische Solidarität über Bord werfen, während auf hoher See Migranten ertrinken – die Deutschen wünschen die Flüchtlinge nach Österreich, die Österreicher nach Italien, die Italiener nach Polen, die Polen nach Tschechien, die Tschechen nach Afrika. Einziger Konsens ist die Abriegelung der EU-Aussengrenze.

In Deutschland besteht der Kollateralschaden des Manövers aus geschwächten Unionspartnern und einer wankenden Kanzlerschaft Angela Merkels. In Italien, dem von der Einwanderung gebeutelten Mittelmeerland, das vom Norden im Stich gelassen wird, besteht die Quittung aus einem neofaschistischen Triumph in Rom.

Dabei gibt es tatsächlich Herausforderungen: Von Berlin-Neukölln über Bradford, Brüssel-Molenbeek und Saint-Denis bis Wien-Ottakring ist die Integrationspolitik kläglich gescheitert. Doch von ihrem Versagen lenken Europas Politiker lieber ab. Stattdessen dient die neue Asylhärte – um Marx zu bemühen – als Opium fürs Volk.

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