Raketen, Stromausfall und kalte Nächte
Kommt die nächste grosse Flucht?

Die Schweiz erwartet bis zu 120’000 Menschen aus der Ukraine. Zur Not will die die oberste Sozialdirektorin Nathalie Barthoulot für sie Kasernen umfunktionieren.
Publiziert: 16.10.2022 um 00:27 Uhr
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Aktualisiert: 16.10.2022 um 07:03 Uhr
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Mit dem Zerstören der Ukrainischen Infrastruktur soll es zu Strom- und Wassermangel kommen.
Foto: DUKAS
Tobias Marti, Camilla Alabor

Mehr als 80 Raketen hat Russland zu Wochenbeginn auf die Ukraine abgefeuert. Auch die Hauptstadt Kiew kam erneut unter Beschuss. 20 Menschen starben, mehr als fünfmal so viele wurden verletzt.

Wladimir Putin (70) liess nach dem Bombardement verlauten, von 29 ins Visier genommenen Objekten seien sieben nicht so beschädigt worden, «wie es vom Verteidigungsministerium geplant war». Dies wolle man «nachholen», so der russische Präsident.

Dementsprechend ging der Beschuss gestern weiter. Eine Anlage zur Energieversorgung von Kiew und dem Umland erlitt durch einen Raketentreffer schwere Schäden. Massive Ausfälle bei der Stromversorgung waren die Folge.

Das Kalkül des Kreml-Chefs

In der Schweiz verfolgt man die Strategie Moskaus genau. «Der intensive Raketenbeschuss von Anfang Woche zielte insbesondere auf die Energie-Infrastruktur. Man versucht damit, zu möglichen Versorgungsengpässen bei Strom, Wasser und Mobilfunk beizutragen», erklärt ein Sprecher des Staatssekretariats für Migration (SEM) gegenüber SonntagsBlick.

Das Kalkül des Kreml-Chefs: Mittels seiner Bomben und mit dem nahenden Winter könnte er nochmals eine grosse Flüchtlingswelle auslösen und damit den Druck auf den Westen erhöhen.

«Im wahrscheinlichsten Fall» rechnet das SEM mit 80'000 bis 85'000 Schutzsuchenden aus der Ukraine bis Ende Jahr. Das wären monatlich 3000 bis 5000 neue Anträge. Stand heute, sind rund 65'000 Menschen aus dem Kriegsgebiet in die Schweiz geflüchtet.

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Nicht nur ukrainische Flüchtlinge

Berns Migrationsbeamten ist bewusst, was geschehen kann, wenn Putins Plan aufgeht: «Sollte es in der Ukraine mit dem Winterbeginn zu einschneidenden Versorgungsengpässen kommen, insbesondere bei Heizmitteln und Strom, ist auch ein deutlicher Anstieg auf bis zu 120'000 Anträge möglich.»

Das würde etwa eine Verdoppelung der heutigen Anzahl Ukrainerinnen und Ukrainer hierzulande bedeuten.

Auch generell nimmt der Druck im Asylwesen weiter zu. Das SEM rechnet mit 19'000 Menschen (ohne Ukrainerinnen und Ukrainer), die dieses Jahr in der Schweiz ein Gesuch stellen werden. Zum Vergleich: Während des Pandemiejahres 2021 waren es insgesamt knapp 15'000. Dazu die Migrationsbehörde: «Die grössten Zunahmen werden bei Gesuchen von afghanischen und türkischen Staatsbürgern verzeichnet.»

Und wie bereitet sich die Schweiz auf eine neue mögliche Flüchtlingswelle vor?

Nathalie Barthoulot (54), Präsidentin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren (SODK) und jurassische Regierungsrätin der SP, sagt auf Anfrage von SonntagsBlick, man habe ermittelt, «dass wir gut 80'000 Menschen ohne grössere Probleme unterbringen können». Kantone und Gemeinden arbeiteten ohne Unterbruch daran, neue Plätze zu schaffen.

«Es fehlen Psychologen oder Sozialpädagoginnen»

Die Behörden nutzten etwa Jugendherbergen, Container oder Zivilschutzanlagen. Bisher musste laut Barthoulot kaum auf unterirdische Unterkünfte zurückgegriffen werden. Schweizweit gebe es derzeit gut 7700 freie Plätze. Komme es im Winter jedoch tatsächlich zu einem grossen Andrang, müsse man nach weiteren Lösungen suchen. «Dann müssten wohl auch Kasernen oder andere staatliche Gebäude genutzt werden.»

Derzeit sei für viele Kantone weniger die Zahl der freien Plätze als vielmehr der Fachkräftemangel das Problem: «Es fehlen Psychologen oder Sozialpädagoginnen, die sich um die Flüchtlinge kümmern.» Zu Beginn seien die Kantone davon ausgegangen, dass die Flüchtlinge möglicherweise nur vorübergehend bleiben. Heute sehe man, «dass die Menschen wohl nicht so rasch zurückkehren». Deshalb engagierten sich die Kantone verstärkt für deren Eingliederung, etwa mit Sprachkursen oder Integrationsklassen für Kinder.

Die oberste Sozialdirektorin des Landes windet den Bürgerinnen und Bürgern ein Kränzchen. «Am Anfang hätten wir ohne die Gastfamilien nicht funktionieren können», sagt sie. Jemanden bei sich aufzunehmen, sei nicht immer einfach. Aber noch immer würden sich neue Gastgeber bei den Kantonen melden. Barthoulot: «Unser Land vollbringt derzeit eine Leistung, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen haben.»

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