Welch befremdliches Land ist doch die Schweiz! Wir halten uns für die beste Demokratie der Welt – und wählen einen der sieben Weisen, als sei es blosse Routine. Uns wird gesagt: Die Sache ist gegessen, der Tessiner Ignazio Cassis ist gewählt.
Er ist der Agent der Krankenkassen. Seine Kompetenz? Wird nicht thematisiert. Cassis gilt als durchschnittlich. Grossartig! Die Parlamentarier lieben das Mittelmass. Sein Faible für die internationale Politik – eine Eigenschaft, die auf dem möglichen Posten des Aussenministers wichtig ist? Cassis versteckt es gut. Umso besser, sagen sich die Parlamentarier, es wird sich nicht mit den Nationalisten anlegen.
Cassis präsidiert die nationalrätliche Kommission für Soziales und Gesundheit. Weil er ein grosses Herz hat? Ach was! Das Schweizer Gesundheitswesen ist ein politischer Dauerbrenner. Und Cassis ist Arzt – aber kein Arzt wie alle anderen: Er ist in erster Linie der beste Freund der Krankenkassen. Cassis ist Chef des Branchenverbandes Curafutura. Ein Teilzeitjob, der ihm 180'000 Franken pro Jahr einbringt. Die Krankenkassenlobby hat im Parlament sehr viel Einfluss – hundertmal ist das schon gesagt worden, geändert hat sich nichts.
Ein Albtraum!
Wenn es den Krankenkassen jetzt gelingt, ihren Mann in der Regierung zu platzieren, dann gute Nacht! Cassis könnte womöglich Innenminister werden, denn Alain Berset fühlt sich von der internationalen Diplomatie durchaus angezogen.
Es wäre ein Albtraum! In ganz Europa werden Interessenkonflikte thematisiert und skandalisiert – nicht so in der Schweiz. Im Gegenteil, der Filz wird sogar gefördert. Klar: In unserem Milizparlament unterhalten die meisten irgendwelche Beziehungen zu wirtschaftlichen oder sozialen Gruppen. Aber alles mit Mass. Mit Cassis wird dieses Mass eindeutig überschritten!
Die Innenpolitik ist aktuell das heisseste Pflaster. Die Gesundheitskosten für jeden Einzelnen sind unerträglich. Und sie sind unfair, weil die Krankenkassenprämien pro Kopf festgelegt werden, unabhängig vom Einkommen und ohne Beteiligung des Arbeitgebers. Massgeblich schuld an diesen Monsterkosten sind die Krankenkassen: Es gibt viel zu viele von ihnen – nämlich 59 –, und das ist ein erheblicher Kostenfaktor. Vor allem aber haben die Kassen kein wirkliches Interesse, die Gesundheitskosten zu senken. Viel zu stark profitieren sie von den jährlichen Umsatzsteigerungen. Wohl geben sie sich immer besorgt und mahnen Ärzte wie Patienten zur Vernunft. Das aber ist reine Heuchelei.
Das ganze System muss überprüft werden
In Wirklichkeit kümmern sie sich keinen Deut um die Preise von Medikamenten, die hierzulande sehr viel teurer sind als anderswo. Auch ist es so, dass sie bestimmte teure Behandlungen anderen, vorteilhafteren vorziehen. Als es im Parlament darum ging, die Eröffnung neuer Arztpraxen zu drosseln – wer stellte sich als Erster dagegen? Ignazio Cassis. Das ganze System muss überprüft werden. Dazu gehören auch Massnahmen, die für die Krankenkassen unangenehm sind. Und ausgerechnet deren Söldner soll diese Massnahmen in Kraft setzen? Ein unerträglicher Gedanke
Ach ja, das Tessin! Sollte uns der Föderalismus zu einem schweren politischen Fehler verleiten? Der Nachfolger von Didier Burkhalter, so viel ist wahr, sollte ein Lateiner sein. Das ist zwar nicht zwingend notwendig, aber sicher wünschenswert. In jedem Fall gibt es bessere, unabhängigere Persönlichkeiten, die in der Lage sind, die Last des Bundesratsamtes zu tragen. Auch Frauen sind darunter! In der italienischen Schweiz sehe ich die brillante frühere Regierungsrätin Laura Sadis, in der Westschweiz beispielsweise die Waadtländerin Isabelle Moret. Was spricht gegen den scheidenden Genfer Regierungspräsidenten François Longchamp, der für die Aussenpolitik wie geboren scheint? Auf der anderen Seite der Saane gibt es den Solothurner Nationalrat und langjährigen Stadtpräsidenten Kurt Fluri sowie die Berner Nationalrätin Christa Markwalder.
Auf alle Fälle geht es darum, den Strohmann der Krankenkassen von der Macht fernzuhalten!