Polizeigewerkschafterin Bundi Ryser über Femizide und Frauen in ihrem Beruf
«Es wird zu wenig hingeschaut»

Johanna Bundi Ryser (56) ist die erste Frau an der Spitze der Polizistengewerkschaft. Im Interview spricht sie über Femizide, mangelhafte Frauenförderung in ihrem Beruf und wieso sie auch bei einem Bundesrat kein Blatt vor den Mund nimmt.
Publiziert: 07.09.2019 um 14:27 Uhr
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Aktualisiert: 19.09.2020 um 10:17 Uhr
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Johanna Bundi Ryser (56), die Präsidentin der Polizeigewerkschaft, spricht über die Rolle der Polizei und anderer Behörden bei Femiziden.
Foto: Thomas Meier
Rebecca Wyss

Frau Bundi Ryser, sechs tote Frauen in kurzer Zeit. Weil ­Männer sie umbrachten. Femizide häufen sich. Wo liegt unser Problem?
Johanna Bundi Ryser: Oft überwiegt Täterschutz gegenüber Opferschutz. Wenn Lehrer oder Behörden merken, dass ein Ehemann oder Vater sich auffällig verhält, ­haben sie oft Skrupel, bei der Familie nachzufragen. Sicher, es braucht Überwindung und auch Indizien, die zeigen, dass etwas nicht stimmt. Man muss ja auch nicht gleich den Vater des Schlimmsten verdächtigen. Aber ich muss sagen: Es wird zu wenig hingeschaut. Ich wünschte mir mehr Courage.

Weshalb wird zu wenig hingeschaut?
Manchmal ist es schwierig. Zum Teil passieren Femizide in Fami­lien, die in unser Land gekommen sind und die hier abgeschottet ­leben. Oder es gibt Frauen, die sich schämen und nichts erzählen. So kann vieles hinter verschlossenen Türen geschehen. Alle in der Gemeinschaft schweigen darüber. Nichts dringt nach aussen.

Mehr als jeder fünfte Tatverdächtige wird in den zwei Jahren vor der Tat polizeilich registriert. Der Täter aus Dietikon beispielsweise ist im Februar 2018 wegen häuslicher Gewalt aktenkundig geworden. Er bekam ein Kontaktverbot. Warum können Täter trotzdem nicht gestoppt werden?
Wir haben nicht immer die Mittel dazu. Oft fehlt die gesetzliche Grundlage. Wir können solche Männer nicht präventiv für längere Zeit festnehmen. Das wäre aber manchmal wichtig, um die Situa­tion zu entschärfen. Deshalb hat es mich auch geärgert, als die ­Prä­sidentin der Schweizer Frauen­häuser (Anm. d. Red: Susan A. Peter) im BLICK der Polizei die Schuld für die Tat in Dietikon in die Schuhe ­geschoben hat.

Was bringt eine Präventivhaft, wenn die Täter ja doch gleich wieder freikommen?
Sie bringt nur in einer akuten Si­tuation etwas – als Entschärfung. Aber eine präventive Festnahme reicht nicht. Die Polizei kann Femizide nicht alleine verhindern.

Die Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan plant einen Vorstoss, der eine Echtzeit-Überwachung von Täter und Opfer durch GPS-­Sender vorsieht. Was halten Sie davon?
Wir müssen uns bewusst sein: Es gibt keine 100 Prozent sichere Methode, um Femizide zu verhindern. Auch mit solchen Massnahmen nicht. Ich finde es falsch, schnell etwas zu ­initiieren und dann zu denken, wir hätten das Problem damit gelöst.

Was schlagen Sie vor?
Es braucht Prävention, Sensibilisierung und einen offenen Informationsaustausch. Zudem wäre ein ­besseres Zusammenspiel der in­volvierten Stellen vonnöten: Kesb, Opferhilfestellen, Polizei, Sozialamt. Wenn zum Beispiel das Sozialamt oder die Kesb bei Familien ­irgendwelche Unregelmässigkeiten feststellen, wäre es wichtig, dass sie das uneingeschränkt der Polizei melden.

Warum passiert das nicht?
Das Datenschutzgesetz macht es schwierig.

Machen Sie als Polizistin, als Frau, solche Fälle betroffen?
Das tut es. Auch meine männlichen Kollegen macht es betroffen. Sie haben Ehefrauen, Freundinnen und Töchter zu Hause. Manchmal verstehen sie es deshalb kaum, dass sie eine Frau nicht dazu bewegen können, ins Frauenhaus zu gehen. Oder sich an eine Opferhilfestelle zu wenden.

Die Frauenhaus-Chefin Susan A. Peter sagte gegenüber BLICK, dass die Polizisten manchmal ­gegenüber den Opfern Sprüche machen würden: «Jetzt müssen wir schon wieder kommen.» Ist das nicht unsensibel?
Im Polizeialltag kann es vorkommen, dass Polizistinnen und Polizisten als unsensibel wahrgenommen werden. Aber die meisten sind einfühlsam, das weiss ich aus eigener Erfahrung. Ich bin gegen Pauschalisierungen. Vielleicht kommt dieser Vorwurf auch daher, dass sich geschädigte Frauen wünschen, dass wir mehr für sie tun können. Vielleicht sind sie auch deshalb enttäuscht. Doch unsere Ressourcen lassen es einfach nicht zu. Wir müssen die Situation klären und schauen, was strafrechtlich re­levant ist. Deshalb sind die Opfer­hilfestellen so wichtig.

Die Vorwürfe passen zum Rüpel-Image der Polizisten. Mehr Frauen in den Korps würde das sicher ändern. In manchen Kantonen beträgt der Frauenanteil nur acht Prozent. Wie sehen Sie das?
In gewissen Polizeikorps gibt es sicher noch Luft nach oben – vor allem auch in Bezug auf Kader­positionen.

Aber sehr viele Polizistinnen steigen nach der Geburt des ­ersten Kindes aus dem Job aus. Weil sie keine Möglichkeit sehen, beides zu vereinbaren. Tun die Kantone zu wenig?
Wenn ich über Vereinbarkeit von Beruf und Familie spreche, stosse ich auf Kopfschütteln. Einzelne Polizeikommandanten sagen mir sogar, es sei unmöglich in diesem Bereich – ich sei nicht realistisch. Die Bedürfnisse der jungen Frauen und Männer haben sich aber verändert. Auch Männer wollen heute Väter sein, mehr Zeit mit den Kindern verbringen und darum Teilzeit arbeiten. Es braucht ein Umdenken und ein neues ­Rollenverständnis.

Was muss sich ändern?
Es muss beispielsweise möglich sein, mehr von zu Hause aus oder Teilzeit zu arbeiten und Jobsharing zu machen. Berichte kann man auch daheim schreiben. Solange man es nicht probiert hat, kann man doch nicht sagen, es gehe nicht.

Hat die Verweigerung mit der Männerkultur in den Polizeikorps zu tun?
Vielleicht. Ich sehe aber auch, dass es an den Frauen liegen kann. Ein Mann aus meinem Umfeld ist Vorgesetzter bei der Polizei und wollte zwei ­Müttern die Möglichkeit geben, Job­sharing zu machen. Beide bestanden aber darauf, dass sie nur an bestimmten Tagen arbeiten können. Sodass sie manchmal sogar beide am gleichen Tag anwesend waren. Deshalb ist das Vorhaben am Ende gescheitert.

Sie haben einen Sohn. Wie haben Sie es gemacht?
Man sagte mir am Anfang, dass 60 Prozent nicht geht und dass sie mich mit dem Pensum nicht als ­Ermittlerin einsetzen könnten. Das glaubte ich nicht und wollte es ­probieren.

Hat es geklappt?
Ja, weil ich flexibel war. Ich habe beispielsweise einen Babysitter organisiert, wenn ich bei einer Hausdurchsuchung gebraucht wurde.

Das klingt anstrengend.
Es war nicht immer einfach. Aber so geht es vielen Familien. Mein Mann hat mich unterstützt. Und ich habe eine gute Tagesmutter. Kinder­betreuungsmöglichkeiten wären bei der Polizei heute ein Muss.

Wie würden diese genau ­aussehen?
Ich könnte mir dies beispielsweise bei Demonstrationen oder Fussballspielen vorstellen – wo immer mehr Polizisten als sonst mobilisiert werden müssen. Solche An­lässe sind in der Regel planbar. Man weiss etwa, wie die ablaufen, wann sie anfangen, wann sie zu Ende sind. Die Väter und Mütter könnten also beim Einrücken das Kind in bester Obhut wissend abgeben und es nach dem Einsatz wieder ab­holen. Dieses Modell gibt es bereits im Ausland.

Militär, Feuerwehr und Polizei – Sie sind immer in männerdominierten Metiers unterwegs. Wie viel Verständnis ernten Sie für Ihre modernen Ideen?
Manchmal ecke ich damit an – das macht mir nichts aus. Ich erlebe auch Anfeindungen. Aber von den meisten bin ich akzeptiert. Als Präsidentin des VSPB muss man aus dem Polizeiberuf kommen. Wenn ich Juristin oder Ökonomin wäre, würde ich wohl weniger Akzeptanz ernten.

Sie exponieren sich mit Ihren Ideen.
Das irritiert. Wenn ich in den Me­dien stark präsent bin, gibt es jene, die sagen: Du bist selbstverliebt.

Was sagen Sie dann?
Es geht nicht um mich, sondern ­ um die Funktion Präsidentin des Polizeibeamtenverbands. Als erste Frau in dieser Position und mit meinem Fachwissen bin ich natürlich interessant für die Medien. Das möchte ich für die Anliegen der Mitglieder nutzen. Ich selbst habe nichts davon. Ich bin ja keine Politikerin, die gewählt werden will.

Was zieht Sie eigentlich in die Männerdomänen?
Mit den Männern an sich hat das nichts zu tun. Ich möchte mich einfach in der Gemeinde, in unserem Land, für die Gesellschaft engagieren. Auch als Fussball-Juniorentrainerin. Da kann ich die Entwicklung der Junioren mitgestalten: Dass ­ sie Anstand lernen, dass man auf­einander Acht gibt, dass man auch verlieren können oder sich gegen Widerstände durchsetzen muss.

Sie setzen sich durch, nehmen kein Blatt vor den Mund. Haben sich in der Vergangenheit auch nicht gescheut, öffentlich Ihre ehemalige Chefin Simonetta Sommaruga zu kritisieren. Wo lernt man so etwas?
Ich bin in einem rätoromanischen Dorf in Graubünden aufgewachsen. Wir sind sieben Kinder. Bei uns am Küchentisch hat man Temperament gespürt. Da habe ich gelernt, die Ellbogen auszufahren und mir Gehör zu verschaffen.

Sie wohnen und arbeiten auf städtischem Gebiet. Fehlt Ihnen die Bergwelt manchmal?
Meine Wurzeln liegen im Dorf Sumvitg, ich bin nicht in einer Grossstadt wie Zürich aufgewachsen. Ich bin auch keine Akademi­kerin, und daraus mache ich keinen Hehl.

Viele sind keine Akademiker.
Das sage ich nur, weil das vielen Leuten so wichtig ist. Mir nicht. Trotz meiner Herkunft könnte ich heute nicht mehr in unserem Dorf leben. Es würde mich zu sehr ­einengen.

Sie haben es weit gebracht.
Ich bin stolz darauf, dass ich die ­Sicherheitsthemen in der Schweiz mitgestalten kann. Aber meine ­Devise ist: Ich bin nur ein Glied in der Kette. Ohne die anderen Glieder würde ich nichts erreichen.

Sind Sie tatsächlich so bescheiden, wie es klingt?
Ich erzähle Ihnen jetzt etwas – es geht um einen ehemaligen Bundesrat, den ich früher geschätzt habe. Es gab mal eine Sitzung mit ihm, an der ich als Polizistin beim Bundeskriminalamt vertreten war. Es ­handelte sich um eine Geiselnahme in einer Botschaft. Wir hatten uns ­lange und gut vorbereitet. Der Bundesrat kam herein, setzte sich grusslos am Tischende auf den Stuhl und forderte uns auf, unsere Resul­ta­ te zu präsentieren. Da ist mir der ­Laden runter. Wer ist er, wenn er nicht einmal Guten Tag sagt? Für mich ist seitdem klar: So abge­hoben, dass ich nicht einmal mehr grüsse, werde ich sicher nicht.

Die Kämpferische

Johanna Bundi Ryser (56) ist seit 2016 Präsidentin des Polizei­beamtenverbands VSPB. Als ­erste Frau überhaupt. Sie ist auch die Erste in dieser Funktion, die auch mal auf den Tisch haut – wenn es der Sache der Polizisten dient. So rügte sie in der Vergangenheit ihre damalige Chefin Bundesrätin Simonetta Sommaruga öffentlich: Diese würde sich zu wenig für die Polizisten einsetzen. Damals ging es um ­Gewalt gegen Polizisten. Aufgewachsen ist Bundi Ryser in einer Grossfamilie in einem Bündner Bergdorf. Neben ihrem Job beim VSPB ­arbeitet sie bei der Bundes­kriminalpolizei. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem zwölfjährigen Sohn in der Region Bern.

Johanna Bundi Ryser (56) ist seit 2016 Präsidentin des Polizei­beamtenverbands VSPB. Als ­erste Frau überhaupt. Sie ist auch die Erste in dieser Funktion, die auch mal auf den Tisch haut – wenn es der Sache der Polizisten dient. So rügte sie in der Vergangenheit ihre damalige Chefin Bundesrätin Simonetta Sommaruga öffentlich: Diese würde sich zu wenig für die Polizisten einsetzen. Damals ging es um ­Gewalt gegen Polizisten. Aufgewachsen ist Bundi Ryser in einer Grossfamilie in einem Bündner Bergdorf. Neben ihrem Job beim VSPB ­arbeitet sie bei der Bundes­kriminalpolizei. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem zwölfjährigen Sohn in der Region Bern.


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