Wird die Schweiz zu einem zweiten Österreich?
Bund und Kantone bereiten sich auf einen Asyl-Notstand vor. Gemäss dem Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser arbeiten die Behörden dabei mit drei Szenarien. Eines geht von 10'000 Asylgesuchen innerhalb eines Monats aus, ein zweites von je 10'000 Gesuchen während drei aufeinanderfolgenden Monaten und ein drittes von 30 000 Grenzübertritten innerhalb weniger Tage. «Trifft eines dieser drei Szenarien ein, können wir das mit den bisherigen Massnahmen nicht bewältigen», so Käser in einem Interview mit dem «Tagesanzeiger».
Grund: Nach der Schliessung der Balkanroute könnten die Flüchtlinge via Italien einreisen.
Entscheid innert 48 Stunden an der Grenze
Am wichtigsten an der vorliegenden Notfallplanung sei, dass alle Asylsuchenden registriert und auf ein allfälliges Sicherheitsrisiko überprüft würden. Für Asylsuchende, die in einem anderen Dublin-Staat registriert wurden oder aus sicheren Drittstaaten stammen, sei ein Schnellverfahren vorgesehen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) würde diese Gesuche innerhalb von 48 Stunden direkt an der Grenze behandeln.
Armee muss Grenzwächter unterstützen
Wie Finanzminister Ueli Maurer im BLICK-Interview sagt, laufe das Grenzwachtkorps «auf dem Zahnfleisch» und könne einen solchen Ansturm nicht allein bewältigen. «In einer ausserordentlichen Situation müssten wir unter anderem auf die Armee zurückgreifen», so Maurer. Verteidigungsminister Guy Parmelin hat bereits Wiederholungskurse verschieben lassen, um immer eine Reserve von 200 Soldaten zu haben. Für Käser könnten diese für die Essenabgabe und logistische Aufgaben zum Einsatz kommen. «Die Vorstellung, dass die Armee mit dem Sturmgewehr an der Grenze steht, ist unrealistisch», so Käser.
Eine weitere Herausforderung sei die Unterbringung und Betreuung der Asylsuchenden. «Ich habe den Ehrgeiz, dass es im reichsten Land der Welt keine Obdachlosen gibt», so Käser, der Präsident der kantonalen Polizei- und Justizdirektorenkonferenz (KKJPD) ist. Für die ersten Tage nach Ankunft der Asylsuchenden würden dem Notfallkonzept zufolge das SEM und das Verteidigungsdepartement insgesamt 6000 Plätze zur Verfügung stellen, vor allem in Armeeanlagen. Nach wenigen Tagen müssten die Menschen aber auf die Kantone verteilt werden. Laut Käser sind vor allem Zivilschutzanlagen für die Unterbringung vorgesehen.
Trifft jedoch das dritte Szenario ein und kommen innerhalb weniger Tage mehrere zehntausend Flüchtlinge in die Schweiz, würden 6000 Bundesplätze nicht reichen, warnt Käser den Bund: «Je nach Notfallszenario braucht es vielleicht 10'000 Plätze.»
200'000 Afrikaner warten in Lybien
Nicht nur in der Schweiz rechnet man mit einer deutlichen Erhöhung der Asylgesuche in den nächsten Monaten. Auch der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller rechnet schon bald mit dem Zuzug zahlreicher Flüchtlinge aus Nordafrika. Allein in Libyen würden bis zu 200 000 Afrikaner auf ihre Überfahrt nach Europa warten. Die Schlepperbanden seien bereits «voll in Aktion», sagte der CSU-Politiker der Zeitung «Rheinischen Post». (sf)