Das Jahr hat kaum begonnen, da steckt das Land schon im Wahlfieber. Dabei dauert es noch fast neun Monate, bis die Wähler ein neues Parlament bestimmen.
Die Parteispitzen haben das Rennen längst eröffnet. Die FDP etwa schulte ihre Anhänger bereits vergangenes Wochenende in Aarau: Kurse über Social Media oder die Überzeugungsarbeit beim Gang von Tür zu Tür standen auf dem Lehrplan.
Nebenbei taufte Parteichefin Petra Gössi (43, SZ) einen Heiss-luftballon auf den Namen des Urfreisinnigen Alfred Escher (1819–1882) – ein Sinnbild für die Ambitionen der FDP, im Herbst als zweitstärkste Frak- tion in Bern zu politisieren.
Seine Partei befinde sich noch bis Mai in einer Phase, in der sie vor allem intern arbeite und ihre Wahlkämpfer ausbilde, betont der freisinnige Generalsekretär Samuel Lanz (35). «Dann haben wir eine erste Welle, wo wir auf die Strasse gehen. Mit dem ‹Tag der FDP› am 31. August in Aarau wird dann unsere Hauptmobilisierungsphase eingeläutet.»
Aber auch Generalsekretär Lanz bestätigt die Wahrnehmung, der Wahlkampf habe ausserordentlich früh begonnen.
Selbst für Claude Longchamp (61), den Grandseigneur unter den Schweizer Politologen, der die Mechanik des Politbetriebs seit Jahrzehnten durchleuchtet, bietet sich derzeit ein bemerkenswertes Bild. «Das sind die achten Wahlen, die ich in meinem Leben beobachte», so Longchamp diese Woche im Büro des von ihm gegründeten Forschungsinstituts gfs.bern. Erstaunt stellt er fest: «Noch nie hat der Wahlkampf so früh begonnen.»
Die SP geht schon jetzt hausieren
Das gilt nicht nur für die Freisinnigen. Die Grünen verabschiedeten schon im Januar ihr Programm für die kommende Legislatur, während die SP in Bern bereits auf Passanten zusteuerte. Kampagnenleiterin Nadine Masshardt (34), selbst Nationalrätin, hat klare Vorstellungen vom Ablauf der nächsten Monate: «Ende Februar lancieren wir unsere Prämienentlastungs-Initiative. Am 2. März ist unsere grosse Delegiertenversammlung zu den Wahlen.» Im Frühling führe die Partei Tür-zu-Tür-Gespräche und nach den Sommerferien Telefon-Aktionen durch. «Im Juni startet die Frauenkampagne, dann findet auch der Frauenstreik statt.»
Für Longchamp fiel der eigentliche Startschuss für die Nationalratswahlen sogar schon im Herbst: Seit den Rücktrittserklärungen der alt Bundesräte Doris Leuthard (55, CVP) und Johann Schneider-Ammann (66, FDP) befänden sich deren Parteien im Wahlkampfmodus. Seitdem kamen sie nicht zur Ruhe – sie wollten nicht zur Ruhe kommen.
Dass die Nachfolge von Bundesräten zum Anlass für parteipolitische Schauläufe werde, sei eine neue Erscheinung. «Man muss sich das einmal vorstellen: Otto Stich trat 1995 in einem Wahljahr zurück. Am 31. August, knapp zwei Monate vor den Parlamentswahlen!» Kein Vierteljahrhundert später wäre ein solcher Schritt für einen Bundesrat undenkbar, so Longchamp.
Zürich als Barometer
Noch bis vor wenigen Jahren galten die Wahlen im grössten Stand als magische Grenze. Erst nachdem im Kanton Zürich jeweils Ende März die Stimmen ausgezählt waren, liefen die nationalen Wahlkampflokomotiven langsam warm.
Das gelte heute nicht mehr, meint Longchamp. Namentlich die SVP habe diese Entwicklung vorangetrieben. «Mit ihren Initiativen war sie dabei Vorreiterin. Sie war die erste Partei, die ihre Kampagnen strategisch plante und zeitlich taktete.»
Dieses Mal ging der Schuss für die Rechtspartei jedoch nach hinten los: Ihre «Selbstbestimmungs-Initiative» stürzte im November ab. Und die Konkurrenz hat längst nachgezogen und bewirtschaftet ihre eigenen Projekte gekonnt.
Longchamp beschreibt dies als «Amerikanisierung» des Wahlkampfs. Während in den USA zwei Jahre nach der Wahl eines Präsidenten bereits ein Teil des Kongresses neu bestellt werde und die beiden grossen Fraktionen beinahe pausenlos um Stimmen buhlten, sorgten hierzulande die Volksabstimmungen für einen vergleichbaren Effekt. «Wenn jedes Jahr eine sogenannte Schicksalsabstimmung ansteht, gleicht die Stimmung einem permanenten Wahlkampf», fasst Longchamp zusammen.
Zu fragen wäre nun, wer dieses hohe Tempo bis Oktober durchhält – und wer auf der Strecke bleibt. «Gerade den kleineren Parteien geht der Schnauf aus. Sie haben nicht die Ressourcen, um derart lange Kampagnen durchzuziehen», vermutet Longchamp. Die Kleinen müssen sich einschränken.
«Wir müssen unsere Kräfte gut einteilen, etwas anderes bleibt einer Partei unserer Grösse nicht übrig», stimmt BDP-Generalsekretärin Astrid Bärtschi (45) zu. Doch letztlich sitzen Personen und nicht Parteien in den Räten. Niemand halte einen neunmonatigen Wahlkampf durch, ist sich Longchamp sicher. Den Kandidaten aller Parteien rät er: «Macht Pausen!»