Polit-Berater Louis Perron (39) über das Zittern der Promis
«Diese Wahlen haben viel mehr Einfluss als frühere»

Louis Perron erzählt im Interview, warum jede einzelne Stimme zählt und welche Chancen die Promi-Politiker haben.
Publiziert: 17.10.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 21:52 Uhr
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Louis Perron (39) ist Politikwissenschaftler und Polit­berater. Auf Blick.ch gibt er am Sonntag seine Einschätzungen ab und kommentiert die neuesten Entwicklungen.
Foto: Mirko Ries
Hannes Britschgi

BLICK: Louis Perron, die Wahl­urnen sind noch offen. Warum muss man noch wählen gehen?
Louis Perron:
Man sollte nicht freiwillig auf die Macht verzichten, die man hat. Ich bin immer ziemlich erstaunt, wenn ich beispielsweise im Zug Leute höre, die sehr unzufrieden sind. Wir leben doch in einem Land, wo es vielen Leuten sehr gut geht und wir uns auf allen Ebenen einbringen können wie in keinem Nachbarland.

Jede einzelne Stimme zählt?
Klar, es stimmt einfach. In vielen Kantonen braucht es nur 100 oder 200 Stimmen, damit ein Sitz kippt.

Geht es um eine Richtungswahl?
Es ist eine Zuspitzung, denn in der Schweiz haben wir ja wechselnde Mehrheiten. Diese Wahlen haben viel mehr Einfluss auf die Politik als die Wahlen vor zwanzig oder dreissig Jahren. SP-Präsident Levrat hat deshalb recht, wenn er sagt, dass es je nach Resultat etwa bei der Altersvorsorge 2020 oder der Energiewende ganz anders weitergehen wird. Denn wenige Stimmen machen im Parlament den Unterschied.

Wer die Energiewende will, wählt ...?
Grünliberal, BDP, CVP, SP oder Grüne.

Und wer die Energiewende verhindern will?
SVP oder FDP. Hier wird es doch sehr konkret. Deshalb teile ich die Kritik vom blutleeren Wahlkampf überhaupt nicht.

Man hört immer wieder: Die in Bern machen sowieso, was sie wollen.
Es stimmt nicht. Wir haben drei Blöcke: Rot-Grün, die bürgerliche Mitte und die Rechte. Entscheidend ist der bürgerliche Block in der Mitte, der macht die Politik im Lande seit mehr als hundert Jahren. Die Frage ist doch nur, mit wem. Manchmal mit Rot-Grün – zum Beispiel bei den bilateralen Verträgen, bei der Energiewende. Und manchmal mit dem rechtsbürgerlichen Block – vor allem bei finanzpolitischen und wirtschaftlichen Fragen.

Eveline Widmer-Schlumpf erlebt morgen einen ganz besonderen Sonntag!
Sie hat sich im Wahlkampf zurückgehalten, um sich alle Optionen offenzuhalten. Je nach Resultat tritt sie nicht mehr an. Horror­szenario für sie: BDP abgestürzt und klarer Rechtsrutsch. SVP und FDP nahe an der absoluten Mehrheit in der Vereinigten Bundesversammlung. Dann gibt es Druck auf die CVP.

Wenn es für die BDP ganz bitter läuft, dann ist sogar ihr Präsident abgewählt, der Glarner Nationalrat Martin Landolt.
Das wäre der Super-GAU!

Besteht für Landolt ein Risiko?
Ein gewisses Risiko besteht. Als Ständeratskandidat hat er schon einmal eine Wahl klar verpasst. Der jetzige Herausforderer Jacques Marti, Fraktionspräsident der Glarner SP, ist kein Alibi-Kandidat. Zudem dürften einige SVPler strategisch wählen.

Die Glarner Offiziersgesellschaft und ein bürgerliches Komitee mit gewichtigen Namen unterstützen den SP-Mann.
Und SVP-Präsident Toni Brunner sagt, dass er als Glarner zum ersten Mal in seinem Leben ­einen Sozialdemokraten wählen würde! Es wird wohl einige SVPler geben, die ihren Augen nicht trauen, was sie auf den Wahlzettel schreiben werden.

Das Resultat aus Glarus kommt schon am frühen Nachmittag.
Das ist einer der Kantone, bei dem ich mit grosser Spannung hinschaue.

Die Finanzministerin kann rechnen. Aber es gibt auch die emotionale Seite. Wird sie für den Hauch einer Chance kämpfen oder sich eher sagen: «Eine Nicht-Wiederwahl will ich mir nicht antun»?
Eveline Widmer-Schlumpf hat ihre Karriere nicht auf das Amt ausgerichtet. Sie ist eher überraschend Bundesrätin geworden. So wird sie sich nicht ans Amt klammern, sondern nüchtern entscheiden, ob ihre Chancen intakt sind oder nicht.

Volksheld Thomas Minder, Vater der Abzocker-Initiative, muss zittern.
Er hat einfach mehr Konkurrenz als vor vier Jahren. Jetzt tritt ein Regierungsrat gegen ihn an. Sie sagen Volksheld. Einverstanden. Er hat deshalb immer noch Chancen, als Schaffhauser Ständerat gewählt zu werden.

Wie sehen Sie Quereinsteiger Roger Köppel, den Zürcher SVP-Nationalratskandidaten?
Quereinsteiger haben es schwer in der Schweiz. Der bekannte Herzchirurg Thierry Carrel ist vor vier Jahren gescheitert. So einfach ist es nicht. Es braucht eben auch Verwurzelung – Leute, die einen zweimal auf die Liste setzen.

Sie sagen, Voraussetzung für den Erfolg ist die Bekanntheit. Die hat Köppel.
Es braucht neben dem «Air war» auch noch den «Ground war», wie es die Amerikaner nennen. Köppel hat den «Air war» ...

Die Lufthoheit.
... er ist omnipräsent wie kein anderer, sogar in deutschen Talkshows. Aber es braucht noch den «Ground war», die Verwurzelung. Ich bezweifle, ob Köppel innerhalb der SVP-Familie diese Verwurzelung hat.

Köppel fehlen die Bodentruppen.
Genau. Ich bin nicht einmal ganz sicher, ob er gewählt wird. Mich würde es auf jeden Fall nicht völlig überraschen, wenn er nicht oder nur auf einem der hinteren Plätze gewählt würde.

Und die Steueroptimiererin Mar­gret Kiener Nellen, Berner SP-Kandidatin?
Negativkampagnen sind dann gefährlich, wenn sie wiederholt in die gleiche Richtung gehen. Bei ihr gab es schon vor Jahren die sogenannte Mietaffäre. Sie war Präsidentin des Berner Mieterverbandes, aber hatte bei ­eigenen Mietern zu spät Nebenkosten verrechnet. Jetzt haben wir es wieder mit einer ähnlichen Dissonanz zu tun. Für viele SP-Wähler ist es komisch, dass eine Multimillionärin in einem Jahr keine Einkommenssteuern zahlt. Aber sie hat beim Steueroptimieren nichts Illegales gemacht. Deshalb wird sie wahrscheinlich überleben.

FDP-Präsident Philipp Müller konnte mit dem Aufwind seiner Partei in den Ständeratswahlkampf. Dann geschah das Unglück. Er kollidierte mit einer Motorrollerin.
Als Nationalrat wird er sicher wiedergewählt. Als Ständeratskandidat ging er als einer der Favoriten ins Rennen. Gemäss Umfragen scheint ihm der Unfall aber geschadet zu haben. Viele Leute wissen jedoch, dass so ein Ereignis der Albtraum jedes Autofahrers ist.

Magdalena Martullo-Blocher hat als Unternehmerin der Ems-Chemie ihren Vater Christoph Blocher abgelöst. Hat sie als Bündner Nationalratskandidatin den Hauch einer Chance?
Hat sie, weil die Partei relativ nahe an einem zweiten Sitz ist. Im Kanton Graubünden springt der fünfte Sitz immer etwas hin und her. Ein Restmandat. Die Strategie mit zwei Listen und einem prominenten Kopf macht Sinn. Persönlich wäre ich allerdings sehr erstaunt, wenn Martullo-Blocher es schaffen würde. Sie erzählt ja Dinge! Vorbild China zum Beispiel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ­einem Bündner SVPler gefallen würde. Christoph Blocher ist für die Schweiz sicher ein politisches Ausnahmetalent. Sie hat dieses Talent nicht geerbt.

Wir reden von eidgenössischen Wahlen. Letztlich sind es kantonale Wahlen.
Nein, im Gegenteil. Es findet eine Nationalisierung oder zumindest eine Sprachregionalisierung der Wahlkämpfe statt. Die Sitzverteilung hingegen ist kantonal. Einverstanden.

Die Sitzverteilung ist trickreich. Mit Listenverbindungen haben die Grünliberalen vor vier Jahren gleich mehrere Restmandate erobert. Demokratisch lupenrein?
Das Schweizer Wahlsystem bevorteilt die grossen Parteien. In vielen Kantonen ist die Hürde für kleine Parteien riesig. So kann man die Gewinne bei den Restmandaten durch die kleineren Parteien eher als Ausgleich sehen. Vor vier Jahren war offensichtlich der GLP-Präsident Martin Bäumle einer der wenigen, die richtig rechnen konnten.

Jetzt kommt die Bewährung. ­Ei­nige GLP-Sitze sind gefährdet.
Ja, die Konkurrenz kann jetzt auch rechnen. Die GLP-Sitze in St. Gallen, Luzern, Graubünden und Thurgau wackeln.

Welche Parteikampagne hat Sie in den letzten Monaten überzeugt?
Keine hat mich vom Sockel gehauen. Aber im handwerklichen Politmarketing ist die SVP allen anderen überlegen – und das seit 20 Jahren.

Es gibt aber ganz viele, die sich über den Kampagnenklamauk «Wo e Willy isch, isch ou e Wäg» genervt haben.
Das war nur ein Aspekt der Kampagne. Die SVP hatte seit anderthalb Jahren ein Drehbuch. Im vorletzten Sommerloch hat die SVP eine ganze Reihe von Initiativen angekündigt. Die Schweizerische Volkspartei ist nicht inhaltsleer.

Aber die SVP hat sich mit ihrem Slogan «Asylchaos» vor dem Hintergrund des Flüchtlingschaos in Europa verrannt.
Das sehe ich anders. Es kommt letztlich immer darauf an, wie es bei der eigenen Zielgruppe ankommt. Die SVP war mit diesem Thema sehr präsent. Dann hat sich aber die öffentliche Meinung etwas geändert.

Stichwort Solidarität und Willkommenskultur für die Kriegsvertriebenen.
Der tote Bub am Strand. Die Stimmung kippte – notabene innerhalb kürzester Zeit –, und da hat es die SVP auf dem falschen Fuss erwischt. Vermutlich hatte sie das eine oder andere Plakat im Köcher, das sie nun nicht mehr bringen konnte. Es passte nicht mehr zur Grosswetterlage. Aber die Flüchtlingswelle war für die Grünliberalen, die FDP und die BDP viel schwieriger, weil sie schlicht nicht mehr stattfanden.

Wie muss eine Kampagne gebaut sein, damit sie den Kampf um Aufmerksamkeit gewinnt?
Es braucht eine politische Botschaft. Dann etwas Kreativität sowie Handwerk und schliesslich genügend Geld, um alles umzusetzen. Aufmerksamkeit ist die Vorbedingung, um wahrgenommen zu werden. Die Wähler müssen einen Kandidaten überhaupt kennen.

Wie hat Ihnen die CVP-Kampagne mit den orangen Fussgängerstreifen und den Balletttänzerinnen im Tutu gefallen?
Ich fand es noch witzig. Das Timing war allerdings verdächtig. Es wirkte wie eine Ad-hoc-Aktion, damit die CVP auch noch was machte.

Und die FDP-Kampagne?
Es war sicher eine sehr engagierte Kampagne mit enormer Muskelkraft. Man hat viel Geld investiert.

Die SP ist nicht gross in Erscheinung getreten und setzte auf die Methode Telefonmarketing.
Die SP hat gemerkt, dass Asyl für sie ein schwieriges Thema ist. Da verlieren sie eigentlich immer. Die Telefonaktion ist spannend. Wichtig sind dabei die Details. Wie viele Anrufe. Wen man anruft. Wer anruft. Die SP kontaktierte so 100 000 wahrscheinliche Sympathi­santen. Die Richtung stimmt. Ich bin gespannt aufs Resultat.

Warum sind in der Schweiz mehr als die Hälfte Nichtwähler?
Die direkte Demokratie und das System der Machtteilung gehen auf Kosten der Wahlen. Für viele Leute sind die Abstimmungen wichtiger. Wenn man alle Abstimmungen und Wahlen zusammenzählt, dann gehen doch rund 70 Prozent der Bürger alle vier Jahre mindestens ein Mal wählen oder abstimmen.

Wer bleibt abstinent?
Studien zeigen: Das ist eine heterogene Gruppe. Es gibt die­jenigen, die von der Politik frustriert sind. Dann gibt es Leute, die nationale Politik schlicht nicht interessiert. Wieder andere sind sozial isoliert, nehmen also am sozialen Leben nicht teil. Und alle Politiker wollen ausgerechnet die Nichtwähler mobilisieren, als ob es so einfach wäre.

Dabei sollten die Kandidaten vor allem den eigenen Anhang mobilisieren.
Der Erfolg der SVP ist ein Erfolg der Mobilisierung. Sie schöpft im Wahlkampf ihr Potenzial viel besser aus als alle anderen Parteien. In der Schweiz gibt es relativ wenige Wechselwähler, die immer mal wieder andere Parteien wählen. Wenn schon, dann wechselt man innerhalb des politischen Blocks.

Welche Wahlbeteiligung erwarten Sie?
Der Wahlkampf war weniger polarisierend als in vergangenen Jahren. Ich erwarte rund 40 Prozent.

Von den 18- bis 25-Jährigen geht nur ein knappes Drittel wählen. Was ist mit den Jungen los?
Eine Kundin von mir aus dem Ausland sagt es so: Die Jungen interessieren sich für ihre Ausbildung, für ihr iPhone und für das andere Geschlecht. Sie hat nicht unrecht. Die Jungen haben andere Sorgen als die etablierte Politik. Ich finde aber gut, dass es Projekte wie Easyvote gibt, die versuchen, das zu ändern.

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