Polen, Nationalismus und der Ukraine-Krieg
Osteuropas Sternstunde

Putins Bomben machen die östlichen EU-Länder zu moralischen Siegern – und bringen Deutschland und die Schweiz in die Bredouille.
Publiziert: 20.03.2022 um 10:54 Uhr
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Aktualisiert: 20.03.2022 um 14:44 Uhr
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Janez Jansa (Slowenien), Mateusz Morawiecki (Polen), Jaroslaw Kaczynski (Polen) und Petr Fiala (Tschechien) am 15. März im Zug nach Kiew.
Foto: keystone-sda.ch
Reza Rafi

Als wir Gerhard Schröder letzten Sommer auf Vermittlung des St. Moritzer Gemeindepräsidenten zum Interview trafen, war es selbstverständlich, dass wir dem deutschen Altkanzler auch ein paar Fragen zu den östlichen EU-Ländern stellten. Die sogenannten Visegrad-Staaten – Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei – waren für den ganzen Kontinent ein Ärgernis.

Die Regierung in Warschau verletzte mit ihrer Justizreform die Gewaltentrennung, beschnitt scheibchenweise die Pressefreiheit und gefährdete mit einem De-facto-Abtreibungsverbot die Gesundheit der eigenen Bürgerinnen. Nicht besser war das Ansehen Ungarns: Der nationalistische Regierungschef Viktor Orban galt als Donau-Putin. Und Tschechiens Präsident Milos Zeman schockierte mit völkischer Überfremdungsrhetorik.

In der Schweiz verband man mit dem einstigen Ostblock gemeinhin wenig; den Städtetrip nach Prag oder Budapest, natürlich das reiche Kulturerbe, vielleicht auch tschechoslowakische Kinderfilme («Drei Haselnüsse für Aschenbrödel») und, klar, die Freunde und Nachbarn, deren Eltern nach dem Ungarnaufstand oder dem Prager Frühling eine neue Heimat in der Schweiz gefunden hatten.

Russlands Bomben und Raketen auf die Ukraine stellen das alles auf den Kopf. Plötzlich gelten die neuen EU-Länder als Bollwerk des Westens gegen die Barbarei.

Am kräftigsten wirken Bilder aus dieser Woche, die wohl in die Geschichte eingehen werden.

Die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien besuchten den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in Kiew. Die Fotos der Gäste um Polens weisshaarigen Vize-Ministerpräsidenten und PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski an der Seite Selenskis sind eine Botschaft: Wir haben keine Angst vor Putin, wir stehen an der Seite unserer ukrainischen Brüder und Schwestern. Da kann der französische Präsident Emmanuel Macron noch so lang im Hoodie posieren. Moralische Sieger sind die im Osten.

Auf einmal befinden sich auch die Deutschen, die ihre Nachbarn jenseits von Oder und Neisse zuweilen mit abendländisch-aufgeklärter Herrenmoral belehrten, in der Defensive: Berlin hat das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 vorangetrieben, ist Europas grösster Abnehmer für russisches Erdgas und fuhr gegenüber Moskau einen Appeasement-Kurs. Die Eidgenossenschaft wird mit in den Strudel hineingezogen: Sie fungiert als Nord-Stream-Firmensitz und zweite Heimat vieler Oligarchen. Gestern kritisierte Selenski in seiner Rede auf dem Bundesplatz überdies den Nestlé-Konzern, weil dieser sein Russland-Business nicht vollständig zurückzieht.

Die Schweiz steht mit dem Rücken zur Wand. Dass viele osteuropäische Spitzenpolitiker früher mit ihren Putin-Sympathien kokettierten, ist vergessen. So schnell sind kaum je die Verhältnisse gekippt worden.

Im erwähnten Interview beklagte Schröder übrigens, dass Polen und Ungarn «gegen elementare Werte der EU verstossen». Er plädierte dafür, dass Brüssel ihnen den Geldhahn zudreht.

Die Realität liefert manchmal die perfidesten Pointen.

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