Seine Leute zählen Schüsse, Waffenstillstandsverletzungen, Tote: Der Schweizer Thomas Greminger (57) ist Chef der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) – und somit der oberste Friedenssicherer Europas. Seit 2014 ist die OSZE mit einer Spezial-Mission in der Ukraine, insbesondere in der Donbass-Region, stationiert. Ihr Auftrag: den Krieg dokumentieren und der Zivilbevölkerung helfen. Ihr Ziel: verhindern, dass dieser Krieg zum Flächenbrand für Europa wird. Doch die Mission, die der damalige Aussenminister Didier Burkhalter (58) als diplomatischen Coup verbuchen konnte, stösst an ihre Grenzen.
BLICK: Im Mai sagten Sie, es könne auch aus Versehen Krieg mitten in Europa geben. Ist das jetzt passiert? Die Ukraine hat für 30 Tage das Kriegsrecht verhängt, nachdem auf einer Meerenge ein russisches Kriegsschiff einen ukrainischen Schlepper rammte.
Thomas Greminger: Zum Glück sind wir noch nicht so weit. Aber ja, das Risiko steigt weiter an. Seit dem Frühjahr wird die Spannung im Bereich des Schwarzen Meeres, der Meerenge von Kertsch und dem Assowschen Meer stetig aufgeschaukelt. Dieses Spannungsniveau ist besorgniserregender als je zuvor.
Sie haben in einer Krisensitzung der OSZE eine sogenannte «formelle Frühwarnung» ausgesprochen.
Das alleine illustriert den Ernst der Lage. Es ist äusserst selten, dass ein OSZE-Chef zu diesem diplomatischen Instrument greift. Ich bin mehr als besorgt. Das Säbelrasseln wird immer lauter. Russland und die Ukraine spielen «Wie du mir, so ich dir». Das ist brandgefährlich.
Die OSZE ist vor Ort, um Kriegshandlungen zu dokumentieren. Sie haben aber nur Leute auf Land. Jetzt schiessen die Russen und Ukrainer aber auf dem Meer aufeinander.
Unsere Beobachtungsmöglichkeiten sind in der Tat limitiert. Wir können nur landgestützt beobachten. Trotzdem wissen wir: Russland zwingt allen Schiffen aufwendige Kontrollen auf. Das beeinträchtigt die ukrainischen Häfen, welche diese ansteuern wollen.
Was braucht es für Frieden?
Deeskalationsschritte. Ein erster wäre, dass Russland die 24 ukrainischen Matrosen freilässt und die drei festgesetzten Schiffe wieder zurückgibt. Wir müssen endlich Formen des Dialogs finden. Das kann so nicht weitergehen. Auch zu Land. Dort kämpfen die Soldaten an der Kontaktlinie wie im Ersten Weltkrieg: Sie positionieren sich teilweise nur hundert Meter voneinander. Im Donbas stehen sich erhebliche Truppenstärken beider Seiten gegenüber. Dort gibt es täglich Waffenstillstandsverletzungen. Mit anderen Worten: Schwere Waffen sind trotz bestehender Beschlüsse nicht abgezogen worden. Es hat keinen Rückzug aus den vereinbarten Gebieten gegeben. Es hat keine Schutzzonen rund um zivile Infrastrukturen gegeben.
Sie haben also nichts erreicht?
Minen konnten entschärft werden, das ist positiv. Aber auch nicht so viele, wie nötig wären. Das Aushandeln lokaler Waffenstillstände durch die Beobachtermission der OSZE funktioniert recht gut. So können wir wenigstens wieder Wasser-, Gas- oder Elektrizitätsleitungen reparieren. Aber im Grossen und Ganzen passiert das Gegenteil von einem nachhaltigen Waffenstillstand, der eigentlich unser Ziel ist.
Die Spezialmission der OSZE in der Ukraine wird von den Kriegsparteien Russland und der Ukraine mitgetragen. Ist die Mission jetzt gefährdet?
Nein. Es ist wichtig, dass diese Beobachtungsmission auch von den Behörden der Ukraine und Russland unterstützt wird. De facto müssen wir aber immer wieder dazu aufrufen, dass auch die Kämpfer auf beiden Seiten vor Ort unsere Beobachter akzeptieren. Es wird immer wieder in unmittelbarer Nähe unserer Beobachter mit schweren Waffen geschossen. Und unsere Beobachter können sich nicht frei bewegen.
Wie schützen Sie Ihre Leute?
Wir müssen sehr genau planen, wo wir patrouillieren. Und wir fahren in gepanzerten Fahrzeugen, haben kugelsichere Schusswesten und Helme an. Ein Zwischenfall, der vor rund vier Wochen passierte, ärgert mich besonders: Da ist eine unserer grossen Langdistanzdrohnen über nicht von der Regierung kontrolliertem Gebiet abgeschossen worden. Das ist ein Riesenproblem. Wir sollen dokumentieren und unser Werkzeug, es zu tun, wird angegriffen.
1990 trat der in Adliswil ZH aufgewachsene Thomas Greminger (57) in den diplomatischen Dienst ein. Nach Stationen in Tel Aviv, Genf und Mosambik wurde er Chef der politischen Abteilung für Sicherheit sowie Chef der Sektion Friedenspolitik. Ab 2010 war Greminger Botschafter der Schweiz bei der OSZE, den Vereinten Nationen und den Internationalen Organisationen in Wien. Ab August 2015 war er Stellvertretender Direktor und Chef des Bereichs Südzusammenarbeit der Deza in Bern, seit 2017 ist er Chef der OSZE.
1990 trat der in Adliswil ZH aufgewachsene Thomas Greminger (57) in den diplomatischen Dienst ein. Nach Stationen in Tel Aviv, Genf und Mosambik wurde er Chef der politischen Abteilung für Sicherheit sowie Chef der Sektion Friedenspolitik. Ab 2010 war Greminger Botschafter der Schweiz bei der OSZE, den Vereinten Nationen und den Internationalen Organisationen in Wien. Ab August 2015 war er Stellvertretender Direktor und Chef des Bereichs Südzusammenarbeit der Deza in Bern, seit 2017 ist er Chef der OSZE.
Verhandeln Sie eigentlich direkt mit Putin und Poroschenko?
Nein, wir haben eine Kontaktgruppe, die sich alle zwei Wochen in Minsk trifft. Ihr sind aber die Hände gebunden. Es gibt keinen politischen Willen für Frieden! Solange keine Signale von der sogenannten Normandie-Vierergruppe (Deutschland, Frankreich, Ukraine und Russland) kommen, sehe ich schwarz. Zudem hat es schon länger kein Treffen dieser Gruppe auf höchstem Niveau gegeben. Und wir können die Parteien nicht an den Tisch zwingen.
Sollte die Schweiz ihre guten Dienste anbieten?
Italien hat jetzt den OSZE-Vorsitz inne und ich bin sehr froh, dass Italien sich engagiert. Die Schweizer Aussenpolitik unterstützt die OSZE sehr stark und könnte den OSZE-Vorsitz in dieser Sache speziell unterstützen. Aber das muss das EDA entscheiden.