Ostdeutschlands Kampf mit Neonazis
«Heute kann alles passieren»

SonntagsBlick war drei Tage im deutschen Chemnitz. Eindrücke aus einer Stadt im Ausnahmezustand.
Publiziert: 02.09.2018 um 14:28 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 22:09 Uhr
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Demo in Chemnitz am 1. September 2018.
Foto: Siggi Bucher
Tobias Marti

Donnerstag: Atika Shubert sieht im Fernsehen grösser aus. Die kleine Frau in der roten Regenjacke ist gerade Live auf Sendung. Es gibt beim amerikanischen Sender CNN nur wenige ­Figuren, die grösser sind als sie. Wenn es in Europa irgendwo brennt, ist sie da. Und derzeit lodert es in Chemnitz, im ostdeutschen Bundesland Sachsen.

Shubert steht auf dem Trottoir, im Hintergrund Hunderte Blumen, Kerzen dazwischen. Hier passierte die Tat, deren Folgen Deutschland durchschütteln. Ein Iraker und Syrer werden verdächtigt, den Deutschen Daniel H. erstochen zu haben. Es sei, erzählt man sich in Chemnitz, ein Raubüberfall gewesen. Das Opfer bezog Geld am Automaten der Sparkasse, zehn Meter neben dem Tatort. Nach dem Mord kam es in der Stadt zu Demos und Gewalt zwischen Rechten und Linken. Bilder von Hetzjagden auf Ausländer sorgten weltweit für Entsetzen.

Internationale Presse anwesend

André beäugt die Filmerei skeptisch. Shubert, die CNN-Frau, kennt er nicht, aber das Opfer hat er persönlich gekannt. Und ihn stört, wie seine Stadt nun hingestellt wird: «Als wären wir alle rechts.» Sein Hund streicht ihm um die Beine, in der einen Hand hält er ein Mischgetränk. Alkohol und Limonade. Das trinkt man hier spätnachmittags, wenn man noch halbwegs seriös sein will. «CNN, USA, wirklich?» Er lässt fast die Dose fallen, als er erfährt, wer ihn gerade gefilmt hat. Chemnitz ist Weltnews. Nun wirkt er doch stolz, irgendwie.

«Wir haben Angst vor den Nazis»
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Asylbewerber in Chemnitz:«Wir haben Angst vor den Nazis»

Gemeindeversammlung im Fussballstadion am Abend: Politikern und Medien wird kein Wort geglaubt. «Die Stadt schwankt zwischen Liebe und Hass», sagt die Bürgermeisterin zum Saal. Sie wird ausgebuht und verhöhnt. Dabei sind nur die gemässigten Bürger zugelassen. Die anderen warten draussen. Zwischen Schrebergarten und Tankstelle haben sie Stellung bezogen. Sie singen die Deutschlandhymne, brüllen ihre Wut hinaus. In den Saal kommen sie nicht, wollen sie auch gar nicht. Tausend Polizisten stehen herum. Die Stimmung ist angespannt, bleibt aber friedlich.

Freitag: Über ein Jahrzehnt war der Polizist in Chemnitz stationiert, nun liess er sich in die Provinz versetzen. Und ist froh darüber: «Wenn Kolleginnen im Dienst angemacht werden, wenn ihnen an den Arsch gegrapscht wird, dann läuft etwas falsch.» Erlebt hat er das im Park hinter der Chemnitzer Stadthalle. Vor dem Ort warnen viele. Hier seien die Rauschgiftdealer, die Ausländer, immer in Gruppen. «Alkohol und Drogen sind die sich von zu Hause nicht gewohnt», sagt er. Gemeingefährlich sei das. Man könne sich nicht mehr hierher trauen. «So als Normalsterblicher.»

«Wir haben selber Angst»

Im Park stehen ein paar Bürschchen, klein und feingliedrig, kaum einer ist älter als 20. Sind das die gefährlichen Dealer? «Wir haben selber Angst», sagt Aziz. Neonazis würden sie angreifen. Ein Asylbewerber zeigt seine Wunde am Bein, ein anderer präsentiert ein blaues Auge. Also doch Opfer? Aber von wem? ­Einer will der Fotografin die Hand nicht geben. Sie reicht sie ihm trotzdem. Nun ergreift er sie. Verlegenes Lachen. Von den Männern geht Gefahr aus. Aus einem Schwatz wird Belagerungszustand.

Samstag: Ausnahmezustand auch im Hotel. Hundertschaften Polizisten beziehen ihre Zimmer. Die Zimmermädchen fluchen: «Nun müssen wir auch sonntags arbeiten.» Die Polizisten fläzen sich draussen auf Rattanmöbel, rauchen, scherzen. Ganz wie normale Gäste. Ein Hotelgast, Amerikaner um die 50, hat Verständnis für die Demons-tranten. Unklar, ob er die Linken oder Rechten meint. Aber eine Frage an die Polizei hätte er dann doch: ob er nun überhaupt rauskönne. «Heute kann alles passieren», antwortet der Polizist in der Hotellobby. Der Amerikaner wirkt nervös.

Hektik in der Stadt. Gleich drei Gruppen wollen marschieren. Die Rechtsextremen von Pro Chemnitz, die AfD mit Pegida und die linke Gegendemo. Drei Mal potenzieller Krawall, der Horror für die Polizei. Mustafa, ein Iraker ohne Beine, platziert sich mit seinem Rollstuhl vor den Rechtsextremen. Auf seinem T-Shirt steht «Keine Nazis». Eine Frau verdeckt ihn mit einem Regenschirm. Nicht um ihn zu schützen. Sie will den Fotografen die Sicht auf ihn nehmen. Weil das Bild für die Rechten verheerend ist.

«Wir sind freie Bürger, jeder kann machen, was er will», schreit der Redner der Rechtsextremen. Ihre Kundgebung beim Karl-Marx­-Monument lösen sie auf. Sie ­marschieren los, um sich mit den Rechten von der AfD zu vereinen. Grenadiere hasten ihnen hinterher. Es kommt trotzdem zum Zusammenschluss. Tausende stehen vor dem Barbershop, in dem die ­beiden Tatverdächtigen gearbeitet haben. Polizisten beschützen den Laden. Er bleibt heil.

«Proletarier aller Länder, vereinigt euch»

Mitten in der Demo: Männer tragen Armbinden, auf denen «Ordner» steht. Sie nehmen sich das Recht heraus, Befehle zu erteilen. Hier mustert man genau. Journalisten sind suspekt. Viele tragen einschlägige Klamotten. Szene-Kleidung der Rechtsextremen. Keiner trinkt Bier, alles ist straff organisiert, es gibt klare Hierarchien. Ihr Marsch ist blockiert. Offenbar von der linken Gegendemo.

Dann der Angriff von der Gegenseite. Die linksextreme Antifa stürmt aus Seitengassen, Maskierte in Schwarz. Unübersichtliche Lage, Scharmützel zwischen den Fronten. Mal rennen diese, mal die andern. Sie zu unterscheiden wird schwierig. Hooligans, Neonazis, Antifas. Nach acht Uhr sind die Kundgebungen offiziell beendet. Bis Redaktionsschluss wurden elf Verletzte gemeldet.

«Proletarier aller Länder, vereinigt euch.» Das steht an der Wand hinter dem Karl-Marx-Monument. Der Satz hat sich heute verwirklicht. Stoisch schaut Marx dem Treiben zu.

Stimmung beim «Sachsengespräch» ist angespannt
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Nach Krawallen in Chemnitz:Stimmung beim «Sachsengespräch» ist angespannt
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