BLICK: Herr Freysinger, vor 200 Jahren ist das Wallis der Eidgenossenschaft beigetreten. Auf Druck der europäischen Grossmächte. Ist das wirklich ein Grund zum Feiern?
Oskar Freysinger: Es stimmt, ganz freiwillig ging das Wallis nicht zur Schweiz. Es war eher ein Anschluss. Aber man sah ein, dass diese Verbindung viele Probleme des Wallis entschärfte. Ein kleiner Bergkanton mitten in Europa hätte seine Unabhängigkeit nur schwer verteidigen können.
Auch die katholischen Stände wollten das Wallis nicht im Bund haben. Ist diese gegenseitige Ablehnung schuld an den Missverständnissen, die die Beziehung zwischen dem Wallis und der Deutschschweiz prägen?
Die haben wohl einen anderen Grund. Man begreift in der Üsserschwyz nicht, wie rasant sich das Wallis in den letzten 50 Jahren verändert hat. Gewisse Bergdörfer wurden erst kurz vor meiner Geburt 1960 durch eine befahrbare Strasse mit dem Haupttal verbunden. Bis dahin sind die noch mit Maultieren die Berge hochgeklettert. Dann war plötzlich die Moderne da. Mit voller Wucht. Das führte auch zu Fehlentwicklungen in der Politik.
Haben Sie ein Beispiel?
Eine Zonenplanung gab es erst 1973. Viel zu spät. Die Deutschschweizer tun heute so, als stecke das Wallis immer noch in den 60er-Jahren fest. Aber das entspricht längst nicht mehr der Realität. Wir haben inzwischen unsere Gesetze.
Dann ist das Klischee falsch, dass die Walliser Gesetze vor allem dann beachten, wenn sie ihnen zum Vorteil gereichen?
Natürlich haben wir einen lateinischen Einschlag. Wir sind nicht die Preussen der Schweiz. Das sind die Zürcher. Wir sind eher die Korsen der Schweiz.
Wie halten Sie es denn mit den Gesetzen?
Nun ja, die Deutschschweizer sind gesetzestreu bis zum Komma. Wir Walliser sind eher jene, die sagen: Ja Moment, wir sind doch einem föderalistischen Bund beigetreten, jetzt lasst uns bitte unsere Dinge auch so regeln, wie wir uns das seit Menschengedenken gewohnt sind.
Wo wird der Walliser denn heute gerade eingeschränkt?
Ein Beispiel: Wir haben ein ganz anderes Erbrecht als die Deutschschweiz. Grundstücke wurden bei uns nicht als Einheit erhalten, sondern immer anteilsmässig an alle Kinder verteilt. Es gibt Alphütten, die haben 30 Besitzer.
Das ist doch absurd.
Nein, das hat klare Vorteile. Bei Einzonungen profitierten sehr viele Bürger. Sie alle konnten dann Darlehen auf ihrem Land aufnehmen. Das hat eine wirtschaftliche Dynamik ausgelöst.
Wo liegt denn jetzt das Problem mit Bern?
Beim Raumplanungsgesetz. Da sagt der Bund plötzlich, wir müssten unsere Baulandreserven verringern. Damit würden mehrere Milliarden Franken Volksvermögen auf einen Schlag vernichtet. Zack, weg! Und da frage ich mich schon: Wer zahlt das? Erst recht, weil die Raumplanung gar nicht Sache des Bundes ist.
Es liegt doch im nationalen Interesse, die Zubetonierung der Landschaft zu verhindern.
Das kann doch nicht heissen, dass das Wallis zum Alpenzoo wird und die Deutschschweizer am Wochenende kommen, um die Eingeborenen zu füttern.
Das Volk will die Zersiedelung eindämmen. Warum fällt es Ihnen so schwer, das zu akzeptieren?
Das ist der Volkswille der Üsserschwyz. Wir haben die Zweitwohnungs-Initiative heftiger verworfen als alle anderen Kantone. Wir waren massiv dagegen!
Die Mehrheit bestimmt.
Aber doch nicht in der Raumplanung! Das ist Sache der Kantone. Da hat sich der Bund nicht einzumischen. Diese Abstimmung hätte gar nicht stattfinden dürfen. Die war illegal! Aber gut, wir werden schauen müssen, dass wir aus dem Raumplanungsgesetz das Beste machen. Wir werden es so flexibel wie möglich umsetzen. À la valaisanne.
Mit der Minarett-Initiative haben Sie sich in Gemeindekompetenzen eingemischt. War das auch illegal?
Wir waren dazu gezwungen. Wir mussten das Minarettverbot in der Verfassung verankern, damit es für das Bundesgericht gleichwertig ist wie die Religionsfreiheit. Und es entsprach im Fall Wangen dem Willen von Gemeinderat und Bevölkerung. Jetzt ist die Sache klar. Und es scheint, als sei das überhaupt kein Problem.
Die Minarett-Initiative ist Ihr grösster politischer Erfolg auf Bundesebene. Mit der Gründung der SVP Wallis 1999 haben Sie aber mehr Spuren hinterlassen.
Klar.
Sie haben die ewige Herrschaft der CVP im Wallis beendet.
150 Jahre lang hatte sie die uneingeschränkte Macht. Absolute Mehrheit im Parlament. Absolute Mehrheit in der Regierung. Jetzt ist der Bann gebrochen. Wenigstens im Parlament. Ja, das nehme ich auf meine Kappe. Und das macht mir so schnell keiner nach.
Wie haben Sie das geschafft?
Die CVP ist über die Jahre nach links geschlittert. Da haben wir sie rechts überflügelt.
Sehr weit rechts.
Ich musste am Anfang überziehen. Meine politischen Aussagen waren messerscharf. Ich wusste: Darauf spricht der Walliser an. Der Walliser ist bürgerlich. Der Walliser ist konservativ. Er will Selbständigkeit. Souveränität. Autonomie.
Hätten Sie bei der SVP-Gründung vor 16 Jahren an einen solchen Erfolg geglaubt?
Nein, bestimmt nicht. Wir waren drei Typen an einem Tisch. Drei für das ganze Wallis, von Gletsch bis Saint-Gingolph. Wir mussten alles aufbauen. Von A bis Z. Eine Knochenarbeit. Ein unvorstellbarer Chrampf. Sehr hart waren auch die Angriffe unserer Gegner. Der Höhepunkt war ein Brandanschlag auf mein Haus. Aber gut, ich hab es überlebt. Jetzt sind wir eine Regierungspartei. Und eine der grössten Fraktionen im Parlament.
Ist die Politik jetzt auch besser?
Ich denke schon. Es ist doch klar, dass ein Filz entsteht, wenn eine Partei 150 Jahre lang an den Hebeln der Macht sitzt.
Die Skandalmeldungen aus dem Wallis haben nicht abgenommen.
Das sind alles Altlasten aus der Zeit der allein seligmachenden «Gottespartei».
Sie tönen wie alt SP-Präsident Peter Bodenmann.
Er hat versucht, den Kanton von links zu verändern. Viel bewegt hat er nicht. Erst mit der SVP wurde es gefährlich für die CVP.
Ende Jahr ziehen Sie sich aus Bern zurück. Ist das eine Flucht?
Nein, das Nationalratsmandat ist zeitlich einfach nicht vereinbar mit dem Staatsrat. Es gibt zu viele Terminkollisionen.
Auch andere Walliser wie CVP-Chef Christophe Darbellay und Nationalratspräsident Stéphane Rossini verlassen Bern. SP-Bodenmann und CVP-Cina waren auch plötzlich weg. Zufall?
Es geht um Heimat. Bern hat seinen Reiz. Man kämpft zwar und bringt Argument um Argument. Doch vieles bleibt nur Geschwätz. Bis sich etwas verändert, vergehen Jahre. Dann die ganze Lobby-Problematik. Die hängt mir wirklich zum Hals raus. Da gab es diesen Typen. Sass neben mir in der Kommission, mit einem Novartis-Papier vor sich. Dieser Kollege intervenierte immer nur dann, wenn ein Punkt auf seinem Novartis-Zettel tangiert war. Damit verdiente er jährlich mehrere Hunderttausend Franken.
Name und Partei?
Das sage ich nicht. Er sitzt ja auch nicht mehr im Parlament. Dies ist aber kein Einzelfall. Schauen Sie sich den Darbellay an. Der hat inzwischen um die 20 Verwaltungsratsjobs. Das darf doch einfach nicht sein.
Jammern über Bern, aber ins Wallis abschleichen: Geht das auf?
Ich gehe ja nicht nach vier Jahren, sondern nach zwölf. Und ich habe gekämpft in Bern. Zudem muss ich auch an die Zukunft der Partei denken. Wenn ich ewig bleibe, erhält sonst niemand eine Chance.
In Bern gibt es Lobbys, im Wallis Clans. Das sah man beim Steuerskandal um Weinbauer Giroud. Sie selbst sind mit ihm über die erzkonservative Pius-Bruderschaft verbandelt.
Bah, ich war doch nie bei der Bruderschaft. Nie. Ging nie in die lateinische Messe. Ich bin ein Mystiker, ein verspäteter Romantiker à la Novalis und Caspar Friedrich. Ich bin kein Dogmatiker.
Der Walliser Tourismus und die Industrie leiden unter dem starken Franken. Viele Jobs sind gefährdet. Denken Sie auch in Richtung Schrumpfungs-Strategie, also Entvölkerung des Wallis?
Im Oberwallis ist dies bereits Realität, das stark wachsende Unterwallis aber wiegt es mehr als auf. Das beunruhigt mich. Wenn wir so weitermachen, wird das Rhonetal in 30 Jahren durchgehend besiedelt sein, weil sich durch die Zweitwohnungs-Initiative die Bautätigkeit von den Bergen ins Haupttal verschoben hat. Da besteht das Risiko, dass eine zusammenhängende Stadt von Monthey bis Brig entsteht.
Jetzt werden Sie zum Befürworter einer strikten Raumplanung?
Es ist natürlich unangenehm, wenn man der Wirtschaft Zügel anlegen muss. Aber es geht nicht anders. Es gibt eine Grenze, ab welcher auch der soziale Friede gefährdet ist, die Sicherheit, die Umwelt. Da gibt es einfach einen Moment, wo …
Wo was?
Ich habe meine Ferien in Korsika verbracht. Dort haben sie es noch im Griff. Sie haben auch den politischen Mut zur Eigenständigkeit. Auch wenn es negative Begleiterscheinungen gibt, das gebe ich durchaus zu.
Negative Begleiterscheinungen wie Terrorismus?
Da fliegt halt auch mal ein Gebäude in die Luft. Zum Glück immer seltener. Aber die haben die Kontrolle über ihren Boden behalten. Obwohl sie stark abhängig sind vom Tourismus. Da müssen wir uns ein Vorbild nehmen. Welche Entwicklung wir wollen: Diese Entscheidung muss bei uns bleiben.
Sie haben eine Sympathie für Korsika. Auch wegen dem Unabhängigkeitskampf?
Absolut. Der Souveränitätsgedanke. Und die damit verbundene Mentalität: Wir hier auf unserer Insel schauen schon selbst zum Rechten. Wir brauchen keinen Hollande aus Paris, der uns irgendwelche Vorschriften macht.
Die Walliser brauchen auch keine Leuthard aus Bern?
Das kann man so sagen. Die Korsen sind auch Bergmenschen wie wir. Auch wenn sie im Mittelmeer wohnen. Korsika ist ein Stück Alpen im Mittelmeer.
Wird das Wallis irgendwann die Schweiz verlassen, um unabhängig zu werden?
Nein.
Auch in fernerer Zukunft nicht?
Die Eidgenossenschaft wird noch Hunderte Jahre überleben. Vorausgesetzt, dass sie den Gründungsprinzipien treu bleibt. Sollte die Schweiz aber der EU beitreten, EU-Gesetze automatisch übernehmen oder sich fremden Gerichten unterwerfen, dann ist die direkte Demokratie im Eimer, der Föderalismus auch. Dann wird der Kitt, der die Schweiz zusammenhält, so schwach, dass ein Auseinanderdriften vorstellbar ist. Die eigenständige Republik Wallis geistert immer noch herum. Sie ist da. In unseren Köpfen.
Aber sie wird nie Tatsache werden?
Es ist eine Art Utopie. Eine Verklärung unseres Kantons. Eine Verklärung unserer Rolle in der Schweiz. Aber sehr positiv aufgeladen. Der stärkste Ausdruck für dieses Gefühl, den ich in den letzten Monaten erleben durfte, war der Cupfinal von Anfang Juni.
Der FC Sion hat den grossen FC Basel im St. Jakob-Park gebodigt.
In der Meisterschaft sind wir Mittelmass. Aber an diesem einen Tag, auf diesem Rasen ... da haben wir uns den Cup geholt! Das war unglaublich stark. Dieser Enthusiasmus! Hier im Tal schlagen wir uns jeden Tag die Birne weich. Aber sobald es darum geht, den Baslern zu zeigen, wie man Fussball spielt, stehen wir zusammen. Wie ein Mann. 3:0. Bam! Das ist das Wallis. Das kannst du nicht erklären. Da ist dieser irrationale Aspekt. Wie in der Liebe. Wie in der Leidenschaft. Der Walliser ist ein leidenschaftlicher Mensch. Und ich bin eine Ausgeburt des Wallisers.
Woher kommt sie, diese Leidenschaft?
Die brauchst du einfach. Denn wenn du hier aus der Haustür trittst, dann geht es nie geradeaus. Immer entweder nidschi oder obschi. Das formt. Da entwickelst du schon als Kind eine Widerstandskraft gegen die Raumorganisation, die dich umgibt. Jeder Tag ist ein Kampf. Mit der Zeit geht das in die Natur über. Der Walliser ist eine Kämpfernatur. Da kannst du nichts machen. Eine Kämpfernatur! Das ist etwas, was die rein materielle Welt übersteigt. Etwas Metaphysisches. Stell dir vor, ein Afrikaner kommt zu unserem FC Sion. Er atmet diese Luft, atmet den Walliser Geist ein, bis der auf ihn übergeht. Dann geht er nach Basel und ist ein Walliser und kämpft bis zum Umfallen. Und dann hauen wir die Basler einfach so weg. Ich glaube, das war der beste Cupfinal, den wir je gespielt haben.
Warum klappt es dann in der Meisterschaft nicht?
Wir haben ja jetzt den Cup. Das reicht doch wieder für eine Weile. Wenn es dann wieder einen Beweis braucht, dass wir es draufhaben, dann kommen wir wieder.