Vania Alleva (51), die Präsidentin der grössten Schweizer Gewerkschaft Unia, forderte wegen der Corona-Krise den schweizweiten Shutdown. BLICK traf ihren Chef Pierre-Yves Maillard (52) nach dem Treffen der Sozialpartner mit Wirtschaftsminister Guy Parmelin (60) – im gebührenden Abstand – zum Interview. Der SP-Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) zeigt den Weg auf, wie der Bundesrat und die Kantone der Krise wieder geeint die Stirn bieten können.
BLICK: Herr Maillard, die Unia fordert einen Shutdown. Wollen Sie diesen?
Pierre-Yves Maillard: Niemand will einen totalen Shutdown. Alle Gewerkschaften engagieren sich für die Gesundheit, die Arbeitsplätze und die Löhne. Aber die Arbeitnehmer fühlen sich erpresst. Für das Privatleben sind einschneidende Regeln erlassen worden. Im Berufsleben soll aber alles erlaubt sein. Die Leute sollen das einfach hinnehmen.
Sorry, Unia-Präsidentin Vania Alleva hat den Shutdown im BLICK gefordert.
Die Unia versucht, einen Lösungsweg aufzuzeigen. Wir haben Kontrollen und Bussen auf der Strasse. Diese braucht es auch am Arbeitsplatz. Es gibt nur wenige Inspektoren in den Kantonen – aber viele Polizisten auf der Strasse. Dieses Ungleichgewicht versteht niemand. Die kantonalen Behörden und die des Bundes sollen die Suva, die Arbeitsinspektoren und die paritätischen Organe verstärken. Die Polizei kann unter gewissen Bedingungen auch helfen.
Aber das dauert. Gerade im Tessin ist der Druck riesig.
In gewissen Regionen braucht es wohl eine Pause. Vielleicht muss die eine oder andere Baustelle ruhen, damit die notwendigen Massnahmen zum Schutz der Arbeiter getroffen und zusätzliche Kontrolleure ausgebildet werden können.
Im Tessin gehen Regierung und Sozialpartner weiter. Der Bundesrat hat sie zwar zurückgepfiffen, aber das Tessin schert sich nicht darum.
Der Bund weiss, dass er dem Tessin und anderen Kantonen, die unter einem massiven Druck stehen, nicht einfach sagen kann: Ihr habt jetzt zu gehorchen! Die Sozialpartner unterstützen den Bundesrat zwar bei seinen Corona-Massnahmen. Wir spüren, dass er die Krise wirklich bekämpfen will. Aber die Landesregierung muss auch spüren, wie viel Gleichschritt es braucht und wo Unterschiede akzeptiert werden müssen.
Die Rede ist hier von Krisenfenstern, nicht?
Wir unterstützen diese sehr. Der Bund könnte den Kantonen die Möglichkeit einräumen, flexibler auf die momentane Situation zu reagieren. Wenn der Druck zu hoch wird, wie im Tessin, muss ein Kanton darauf eingehen dürfen.
Nimmt der Bundesrat die Idee auf?
Ich hoffe es sehr. Es müsste dem Bundesrat eigentlich klar sein, dass er nicht gegen die Kantone regieren kann.
Das sagen Sie als früherer Staatsrat.
Das tue ich. Aus dieser Zeit weiss ich auch: In den Kantonen gibt es grosse Ressourcen, die der Bund in dieser Krise nutzen kann.
Pierre-Yves Maillard (52) ist seit knapp einem Jahr Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Damit kehrte der ehemalige Waadtländer Regierungsrat zu seinen Wurzeln zurück. Als Gewerkschafter begann er seine Karriere, die ihn fast bis in den Bundesrat gebracht hätte. Doch er verlor 2011 gegen Alain Berset (47). Nun sitzt er für die SP im Nationalrat. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.
Pierre-Yves Maillard (52) ist seit knapp einem Jahr Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Damit kehrte der ehemalige Waadtländer Regierungsrat zu seinen Wurzeln zurück. Als Gewerkschafter begann er seine Karriere, die ihn fast bis in den Bundesrat gebracht hätte. Doch er verlor 2011 gegen Alain Berset (47). Nun sitzt er für die SP im Nationalrat. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.
Trotzdem ist es so, dass der Bund keine Entschädigungen zahlt, wenn ein Kanton von sich aus Baustellen und Betriebe schliesst.
Alle Akteure sind klug genug, um nicht in eine solche Richtung zu gehen. Er wird es kaum auf ein Seilziehen ankommen lassen. Denn gewinnt er in dieser Frage, dann verliert er die Unterstützung der Bevölkerung im Tessin und in der Romandie. Autorität muss man sich verdienen, auch als Bundesrat.
Ihre Erwartungen an den Gesamtbundesrat sind klar. Welche haben Sie an Wirtschaftsminister Guy Parmelin?
Wir begrüssen die Corona-Massnahmen des Bundesrats, jetzt muss sich aber die Verwaltung bei der Umsetzung sputen. Es braucht klare Vorgaben für die Prüfung der Tausenden von Anfragen, die jetzt kommen.
Warum das?
Für Beamte, die ihr Berufsleben lang nur eine relativ geringe Kontrolldichte kannten, sind solche Vorgaben hilfreich. Ich sage das mit der Erfahrung eines früheren Regierungsrats: Wer bislang die Anfragen gründlich prüfte, für den ist es nicht einfach, plötzlich in kurzer Zeit eine Entscheidung zu treffen.
Mehr erwarten Sie nicht vom Wirtschaftsminister?
Oh doch! Wir haben alle dem Gesundheitspersonal zu Recht Applaus gespendet für den grossen Einsatz, um Menschenleben zu retten. Gleichzeitig hat der Bundesrat aber den Schutz fürs Pflegepersonal ohne Not – und ohne die Sozialpartner zu informieren – ausgehebelt. Das geht nicht! Der Bundesrat muss das zurücknehmen.
Ist das beim Wirtschaftsminister angekommen?
Das wird sich zeigen. Er hat uns jedenfalls zugehört. Die beschlossenen 42 Milliarden Franken Bundeshilfe haben das bestätigt und sind sehr wichtig. Aber die Situation bleibt angespannt. In der Krise, wenn die Leute existenzielle Ängste haben, dann wird die Ungleichheit noch als zehnmal grösser empfunden. Es sind nicht die Spitzenverdiener, sondern die Pflegerinnen, die Verkäuferinnen und Buschauffeure, die sich exponieren. Es sind die Angestellten, die bei Kurzarbeit auf 20 Prozent ihres Lohnes verzichten müssen.
Die Unia fordert ein Konjunkturprogramm.
Natürlich, es ist keine Frage, ob es das braucht. Richtigerweise hat der Bundesrat vieles im Land heruntergefahren. Man kann das aber nicht einfach in einigen Wochen wieder per Knopfdruck hochfahren. Die Aktivität wird leider nur langsam wieder in Gang kommen. Die Behörden müssen der Wirtschaft dann auf die Sprünge helfen.
Wie muss das Konjunkturprogramm aussehen?
Die Lohngarantien sind das wichtigste Konjunkturprogramm überhaupt. Aber es wird ein Kaufkraftproblem geben. Viele werden während mehrerer Wochen bloss 80 Prozent Lohn erhalten haben. Andere werden gar arbeitslos geworden sein. Und Selbständige werden nur maximal 196 Franken am Tag verdient haben. Das ist für viele nur 30 oder 50 Prozent von dem, was sie sonst einnehmen. Dann kommt noch der Prämienschock bei den Krankenkassen. Denn Corona verursacht im Gesundheitsbereich hohe Kosten. Für 2021 könnten die Prämien massiv steigen. Hier sollte der Bund rund 2 Milliarden Franken investieren, damit die Prämien erträglich bleiben.
Und wie wollen Sie das alles finanzieren?
Eine berechtigte Frage. Der Bund kann sich die 42 Milliarden leisten. Bei den tiefen Zinsen ist Schuldenmachen finanzierbar. Aber natürlich soll man darüber nachdenken, wie allenfalls noch viel höhere Investitionen finanziert werden können. Denn ich sehe die kantonalen Finanzdirektoren schon: Sie werden Sparprogramme durchziehen wollen. Was es aber braucht, ist Solidarität.
Sie fordern also klassische linke Umverteilung.
Sorry, es sind die Pflegerinnen und Verkäuferinnen – gerade viele Frauen – und die Leute bei der Bahn, in der Logistik und auf dem Bau, die die Schweiz noch am Laufen halten. Und es sind viele Geringverdiener. Wenn die Unternehmensbesitzer nach der Krise wieder eine Orgie an Riesendividenden ausschütten, während Kleinverdiener darben, dann wird das nicht verstanden.
Letzte Frage – sie steht jetzt vielleicht quer in der Landschaft: Wie steht es mit den Beziehungen zur EU. Sind diese nicht mehr wichtig?
Doch, aber wir müssen zuerst die SVP-Initiative bodigen. Das wird nun halt einige Monate später geschehen. Dann müssen wir schauen, wie Europa aus der Krise kommt. Wir wissen nicht, wie man zurück zur Normalität gelangt. Wir wissen ja nicht einmal, was in zwei Wochen oder zwei Monaten ist. Das weiss wohl keiner.