BLICK: Herr Gattiker, Belgien hat wegen der Corona-Krise das Asylgesetz ausgesetzt. Sollte das auch die Schweiz tun?
Mario Gattiker: Nein, das würde keine Probleme lösen, aber neue schaffen. Es würde der unkontrollierten Migration Vorschub leisten. Die Kantone wären dann für alle zuständig, die irregulär in die Schweiz gelangen. Auch wenn die Rückführung von Asylsuchenden derzeit schwierig ist, müssen wir die Asylverfahren weiterführen. So haben wir ein Maximum an Kontrolle und können gut mit den Kantonen zusammenarbeiten.
Doch Nichtregierungsorganisationen fordern zum Schutz der Migranten ein solches Moratorium.
Wir müssen jetzt alle ruhig bleiben. Gerade in der Krise muss der Rechtsstaat funktionieren. Klar aber ist: Die Gesundheit der Asylsuchenden, unserer Mitarbeitenden und aller anderen Personen in den Asylverfahren hat absolute Priorität. Deshalb setzen wir die Befragungen der Asylbewerber für etwa eine Woche aus.
Warum der kurze Unterbruch?
Wir halten schon jetzt alle Empfehlungen des Bundesamts für Gesundheit ein. Aber es gibt Ängste bei den Beteiligten, die wir ernst nehmen. Deshalb rüsten wir die Befragungsräume mit Plexiglas-Trennscheiben aus, um sie noch besser zu schützen. Wenn diese Anpassungen abgeschlossen sind, nehmen wir die Anhörungen wieder auf.
Macht die Weiterführung der Asylverfahren Sinn? In 18 Dublin-Staaten kann die Schweiz Asylsuchende sowieso nicht zurückbringen.
Es gibt eine Zeit nach Corona. Dann wollen wir nicht vor einem riesigen Berg von unerledigten Asylgesuchen stehen. Und wir müssen sicherstellen, dass die Auslastung der Asylzentren nicht so stark steigt, dass wir die Empfehlungen des BAG zum Schutz vor dem Coronavirus nicht mehr einhalten können. Wir brauchen in den Bundesasylzentren jeden freien Platz, also muss es weiterhin auch Austritte geben. Deshalb müssen wir Asylverfahren weiterhin durchführen und den Kantonen Asylsuchende zuweisen, bei denen ein Entscheid vorliegt oder bei denen ein erweitertes Verfahren nötig ist. Wer an Leib und Leben bedroht ist, soll weiterhin rasch unseren Schutz erhalten.
Was nützt es, wenn Sie auch Negativentscheide fällen, wenn die Leute nirgendwo hin können?
Nochmals: Es ist zentral, dass sich alle auf einen funktionierenden Rechtsstaat verlassen können, das ist in einer Krise umso wichtiger! Deshalb fällen wir auch negative Asylentscheide, trotz erschwerter Rückführungen. Dies entspricht auch der Haltung der Kantone. Nur wenn wir Abgänge aus den Bundesasylzentren haben, können wir die Corona-Massnahmen voll umsetzen.
Mit den Plexiglasscheiben?
Nicht nur. Wir überprüfen auch die Gesprächssituation. Derzeit sitzen fünf Leute im Raum, wenn Asylsuchende nach ihren Asylgründen befragt werden: der Asylbewerber, die Dolmetscherin, der Protokollführer, der Rechtsvertreter und die Befragerin. Wenn zum Beispiel einer oder eine von ihnen das Gespräch aus einem anderen Raum aus mitverfolgen kann, senken wir das Ansteckungsrisiko weiter.
Geht das rechtlich?
Mit Notrecht ist vieles möglich, wenn es um den Schutz der Gesundheit geht. Wir haben von Bundesrätin Karin Keller-Sutter den Auftrag zu prüfen, wie wir die Zahl der Beteiligten in den Anhörungen reduzieren können. Zudem prüfen wir, ob wir die Ausreisefristen für abgewiesene Asylbewerber verlängern könnten. Zudem haben wir Massnahmen in den Bundesasylzentren getroffen.
Welche?
Wir achten auf die Einhaltung der «Social Distancing»-Regeln und verteilen die Asylsuchenden auf mehr Zimmer. Die Hygiene- und Verhaltensregeln des BAG sind in 15 Sprachen übersetzt und an die Asylsuchenden verteilt worden. Unsere Mitarbeitenden sorgen dafür, dass sie eingehalten werden. Und bevor Asylsuchende einem Kanton zugewiesen werden, gibt es zusätzliche Gesundheitstests.
Machen Sie Corona-Test bei diesen Flüchtlingen?
Nein, nicht systematisch. Laut BAG machen Tests ja nur Sinn, wenn Verdachtssymptome vorhanden sind. Ansonsten werden Corona-Tests nur bei prioritären Gruppen gemacht. Zum Beispiel bei den Mitarbeitern der Spitäler.
Wie viele Corona-Fälle verzeichnet das SEM inzwischen?
Wir haben aktuell weniger als zehn Personen mit einem positivem Corona-Test – es sind Asylsuchende und Mitarbeitende. Die Situation ist aber anspruchsvoll geworden, gerade weil sich die Pandemie in der Schweiz weiter ausbreitet.
Wie reagiert das SEM auf diese Corona-Fälle?
Wir separieren Verdachtsfälle konsequent. Zudem werden wir ein Asylzentrum für Risikogruppen einrichten. In diesem sollen ältere Personen und solche mit Vorerkrankungen vor einer Ansteckung geschützt werden. Zudem wollen wir zusätzliche Unterbringungsplätze für Asylsuchende bereitstellen. Schon heute stehen uns 4500 bis 5000 Plätze zur Verfügung. Davon sind derzeit rund 2400 Plätze belegt.
Der vierfache Familienvater Mario Gattiker (63) ist Jurist. Er war für das Hilfswerk Caritas tätig. Im Bundesamt für Migration (BFM), dem heutigen Staatssekretariat für Migration (SEM), leitete er ab 2005 den Direktionsbereich Arbeit, Integration und Bürgerrecht. Am 1. Januar 2012 wurde er BFM-Direktor, seit dem 1. Januar 2015 ist er Staatssekretär im SEM.
Der vierfache Familienvater Mario Gattiker (63) ist Jurist. Er war für das Hilfswerk Caritas tätig. Im Bundesamt für Migration (BFM), dem heutigen Staatssekretariat für Migration (SEM), leitete er ab 2005 den Direktionsbereich Arbeit, Integration und Bürgerrecht. Am 1. Januar 2012 wurde er BFM-Direktor, seit dem 1. Januar 2015 ist er Staatssekretär im SEM.
Aber Sie sichern sich weitere Betten, warum?
Für für den Fall, dass sich die Pandemie noch weiter ausbreitet und wir mehr Verdachtsfälle und mehr erkrankte Personen hätten. Es geht hier um eine Notfallplanung. Im Auge haben wir auch militärische Objekte.
Die Zusammenarbeit mit der Armee war in der Vergangenheit schwierig.
Heute läuft sie gut. Obwohl die Armee durch die Aktivierung von 8000 Soldaten selbst Unterkünfte benötigt, arbeiten wir sehr gut zusammen. Wir brauchen diese Notfallplätze. Und das Militär ist auch bereit, uns im Bedarfsfall zu unterstützen.
Wie ist die Situation in den Asylzentren? Haben die Leute Angst?
Wie in der Gesamtbevölkerung nimmt auch bei den Asylsuchenden und den Mitarbeitenden die Verunsicherung zu. Es braucht jetzt viele Gespräche und eine gute Information.
Ihnen kommt entgegen, dass derzeit wenig Asylsuchende an Ihre Türen klopfen.
Der Migrationsdruck hat tatsächlich stark abgenommen. Vor der Krise hatten wir in unseren Bundesasylzentren täglich etwa 30 Eintritte, was schon sehr tief war. Jetzt sind es noch 15 Eintritte am Tag.
Das könnte sich rasch ändern, wenn die Lage an der türkisch-griechischen Grenze sich verschärfte.
Danach sieht es nicht aus. Natürlich kann sich die Lage rasch ändern. Aber derzeit kontrollieren die türkischen Behörden die Gewässer in der Ägäis wieder, wodurch viel weniger Migranten auf die griechischen Inseln gelangen. Und viele Menschen, die an der türkisch-griechischen Grenze gestrandet waren, wurden von den türkischen Behörden zurückgeführt. Es sollen sich noch 1000 Migranten an der Grenze befinden. Das hat auch mit den Corona-Massnahmen der Türkei zu tun.
Und wohl mit dem Deal der EU mit Ankara, nicht?
Es gab eine Konferenz zwischen der Türkei, Frankreich, Deutschland und Grossbritannien. Details zu den Gesprächen sind mir nicht bekannt. Wir können nur feststellen, dass sich die Situation in den letzten Tagen beruhigt hat.
Wie ist Ihre eigene Situation? Sind Sie ständig im Bundeshaus und an Krisensitzungen?
Auch meine Arbeit hat sich ins Homeoffice verlagert. Wir kommunizieren nun vor allem über Skype. Wie für alle anderen gilt für mich: Wenn immer möglich zuhause bleiben und sonst konsequent Abstand wahren.
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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