Herr Schlup, Sie als oberster Doktor im Land machen sich Sorgen. Haben wir zu wenige Ärzte?
Jürg Schlup: Wir haben Indizien dafür, auch wenn die Krankenkassen und der Bund widersprechen. Im Moment werden knapp 3000 Ärzte gesucht, wir haben zu wenige ausgebildet. Das bringt uns in eine Abhängigkeit von ausländischen Ärzten. Und das ist ein Problem.
Kürzlich sagte der deutsche Gesundheitsminister im SonntagsBlick, er wolle seine Ärzte zurück.
Offenbar hat Jens Spahn zu wenige Ärzte. Laut deutscher Presse fehlen im Moment 5000 Ärzte an deutschen Spitälern. Ärztemangel gibt es in ganz Europa, ob Polen oder Frankreich. Darum kann ich ihn verstehen, denn derzeit arbeiten 6844 deutsche Ärzte in der Schweiz. An dieser Stelle einen herzlichen Dank den deutschen Ärztinnen und Ärzten! Ich hoffe, dass es ihnen bei uns gefällt und sie bleiben. Denn einer neuen Studie der UBS zufolge verdienen Oberärzte in Frankfurt im Moment mehr als die Kollegen in Zürich.
Ohne die Deutschen
würde es nicht gehen?
Es wäre schwierig. 35 Prozent unserer berufstätigen Ärzte haben ein ausländisches Diplom, knapp
20 Prozent sind Deutsche. Würde dem Aufruf Spahns Folge geleistet, würde das unsere Versorgung gefährden. Wir wären gezwungen, diese Ärzte irgendwo
anders anzuwerben, weil wir selber zu wenige ausbilden. Dazu kommt das Sprachproblem, wenn Ärzte keine Landessprache sprechen.
Und gibt es das häufig?
Das gibt es zunehmend. Wir haben von Patienten Rückmeldungen, die wir früher nicht hatten. Kommt hinzu: Es wird ja nicht nur mit dem Patienten kommuniziert. Medizin wird immer im Team geleistet. Mit der Spitex oder dem Operationsteam redet man auch nicht englisch oder holländisch.
Die Krankenkassen sagen, jede neue Arztpraxis koste den Prämienzahler eine halbe Million Franken zusätzlich.
Das sind Behauptungen, das wurde nie belegt. Keine Studie zeigt einen Zusammenhang zwischen Kosten und Ärztedichte. Die Ärzteeinkommen betragen nur einen kleinen Prozentanteil der gesamten Gesundheitskosten. Dazu muss man sagen: Ärzte verdienen angemessen. In der Praxis 155000 Franken im Durchschnitt, Assistenzärzte rund 98000 Franken bei einer
56-Stunden-Woche.
Laut dem BAG liegt der Durchschnittslohn eines Chefarztes aber bei
219'000 Franken, teilweise gehen die Jahreslöhne bis zu einer Million.
Millioneneinkommen sind aus unserer Sicht nicht vertretbar. Aber das ist nur
ein halbes Prozent von 38000 berufstätigen Ärzten hierzulande. Ausserdem sind solch hohe Einkommen nur mit privaten Zusatzversicherungen möglich, nicht aus obligatorischen Prämiengeldern.
Wer Medizin studiert, hat einen idealistischen und humanistischen Ansatz. Mittlerweile ist aber das Bild entstanden, dass Ärzte vor allem am Geld interessiert sind.
Niemand studiert Medizin, weil er viel Geld verdienen will. Natürlich gibt es schwarze Schafe, aber die sind die Ausnahme.
Trotzdem werden Prämien für die Krankenkassen immer teurer. Weshalb kriegen wir die Kosten nicht in den Griff?
Es gibt viele Kostentreiber. Sicher die Demografie und der Fortschritt. Wir werden immer älter. Und wenn wir Medizin auf hohem Niveau betreiben wollen, dann kostet das.
Das sind die bekannten …
Genau. Dann kommt die Bürokratie dazu. Die Büroarbeit nimmt ständig zu. Jedes Jahr etwa im Umfang von 100 neuen Arztstellen. Und je mehr Büroarbeit, desto weniger Zeit haben wir für die Patienten. Würde man sagen: Ab morgen müsst ihr keine Büroarbeit mehr erledigen, hätte man sofort einen Drittel mehr Ärzte am Patientenbett verfügbar.
Die Büroarbeit kommt daher, dass die Gesellschaft wissen will, was in den Spitälern passiert. Sonst gibt es ja keine Kontrolle.
Natürlich. Aber es wird immer schlimmer. Ich gebe ein Beispiel. Wenn die Krankenversicherung fragt: «War diese Untersuchung oder Behandlung notwendig? Bitte begründen Sie», dann verursacht das viel Arbeit. Man muss die Akten studieren, eine Antwort formulieren und so weiter. Das hat auch mit Vertrauen zu tun.
Sie sagen also, dass das Vertrauen abgenommen hat?
Die Dokumentationsflut, die verlangt wird, deutet darauf hin, ja.
Wie kann man sonst sparen?
Ambulante Medizin ist kostengünstiger als stationäre. Logisch, denn bei ambulanten Eingriffen können Sie das Spital am gleichen Tag wieder verlassen. Wir müssten also die ambulante Versorgung fördern. Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Bund wertet die ambulanten Tarife ab. Gleichzeitig erneuern viele Spitäler die stationäre Infrastruktur. Es gibt etwa 70 Spitalprojekte, die für 20 Milliarden den stationären Bereich erneuern. Dabei brauchen wir mehr ambulant ausgerichtete Operationszentren.
Und was machen Sie dagegen?
Stationäre und ambulante Leistungen müssen gleich finanziert werden. Und zwar ohne dass es die Prämienzahler belastet! Daneben müsste auch der Leistungskatalog der Krankenkassen überprüft werden.
Und welche Leistungen müssen genauer unter die Lupe genommen werden?
Für das Wohlergehen der Patienten sind nicht alle Leistungen gleich wichtig. Eine Herzoperation ist wichtig. Aber wenn jemand zum Beispiel unter lediglich ästhetisch störenden Krampfadern leidet, kann man diskutieren, ob das selber bezahlt werden könnte.
Ein weiterer Vorschlag sind grosszügige
Prämienverbilligungen.
Es gibt Haushalte, die von den Krankenkassenprämien stark belastet werden. Wenn die Prämien zehn Prozent des Haushaltseinkommens überschreiten, sollten Prämienverbilligungen geprüft werden. Vor allem für Familien oder Alleinerziehende können Prämien zu einer grossen Belastung werden. Deshalb sind wir dafür, dass Kinder keine Krankenkassenprämien zahlen müssen.
Der Kanton Luzern hat vielen Familien die Prämienverbilligung gestrichen. Jetzt hat das Bundesgericht entschieden: Das geht nicht. Ihr Kommentar dazu?
Wir begrüssen dieses Gerichtsurteil. Die Prämienverbilligungen, wie sie angedacht sind, sind nötig und wichtig. Die Ursache bekämpft man damit aber nicht, nur die Auswirkung.
Die CVP hat einen weiteren Vorschlag: die Kosten einfrieren.
Da sehen wir Gefahren. Das hätte Nebenwirkungen. Das sehen wir in Deutschland, wo die Kosten seit
20 Jahren gedeckelt sind. Die gesamten Ausgaben für die Gesundheit sind dort gleichförmig gestiegen wie bei uns. Aber die Wartezeiten werden immer länger. Für die Leute wird es schwieriger, einen Arzttermin zu bekommen.
Vor zwei Wochen sagten zwei Ärzte im SonntagsBlick: Es wird viel zu viel operiert und therapiert.
Es gibt überflüssige Leistungen, das stimmt. Wir gehen von drei, vier Prozent der medizinischen Leistungen aus. Die muss man unbedingt vermeiden, denn so kann man natürlich auch Geld sparen.
Der Nimbus der Ärzte hat gelitten. Auch weil sich die Leute im Internet
informieren. Ist das Vertrauen weg?
Halt. Wir begrüssen, dass sich die Patienten informieren. So sind bessere Diskussionen möglich. Das Gespräch mit dem Patienten wird sachlicher. Wenn der Patient besser informiert und motiviert wird, dann sind auch die Therapieerfolge grösser. Man müsste aber die Zeit dafür haben …
… und diese fehlt, sagen Sie?
Der Tarifeingriff des Bundesrats vom letzten Januar hat dazu geführt, dass
wir noch 20 Minuten pro Patient haben. So ist das natürlich schwieriger geworden.
Jürg Schlup (63) ist seit 2012 Präsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Seine Wahl war eine Überraschung, sogar für ihn selber. Er gilt als ruhige, zurückhaltende Person. Anders als sein Vorgänger, Jacques de Haller, äussert sich Schlup öffentlich nur zu Gesundheitsthemen. Über 30 Jahre praktizierte er als Arzt, zuletzt als Hausarzt in Zollikofen BE. Er ist in der FDP, verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
Jürg Schlup (63) ist seit 2012 Präsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Seine Wahl war eine Überraschung, sogar für ihn selber. Er gilt als ruhige, zurückhaltende Person. Anders als sein Vorgänger, Jacques de Haller, äussert sich Schlup öffentlich nur zu Gesundheitsthemen. Über 30 Jahre praktizierte er als Arzt, zuletzt als Hausarzt in Zollikofen BE. Er ist in der FDP, verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.