Zimmer 301 des Bundeshauses, während der Wintersession: Der frisch gewählte Aussenminister Ignazio Cassis (56) trifft die parlamentarische Gruppe Schweiz-EU zu einem ersten Meinungsaustausch. Manche National- und Ständeräte rümpfen die Nase, als der SVP-Haudegen Roger Köppel (52) den FDP-Bundesrat vor versammelter Runde fragt, ob er nun endlich Pascale Baeriswyl (49) entlassen werde.
Die Sozialdemokratin war erst ein Jahr zuvor von Cassis’ Vorgänger Didier Burkhalter (57) zur Staatssekretärin und Nummer zwei im EDA befördert worden. Seit April koordiniert die Diplomatin die Verhandlungen mit der Europäischen Union.
Cassis reagierte verdutzt auf Köppels undiplomatisches Vorgehen. Dass ein Nationalrat die Absetzung von Spitzenbeamten fordert, ist ungewöhnlich. Die Szene passt aber zum Druck, den die Bürgerlichen derzeit gegenüber dem neuen EDA-Chef aufbauen. Mit den SVP-Stimmen im Bundesrat versucht die Blocher-Partei, den Tessiner in die Pflicht zu nehmen.
Cassis sucht Befreiungsschlag
Schützenhilfe erhält sie von Cassis’ eigener Fraktion: Gewichtige FDP-Mitglieder pochen auf einen personellen Neuanfang in den Europaverhandlungen. Im verkachelten EU-Dossier, das Cassis meistern muss, hat sich die Rechte auf die Chef-Unterhändlerin eingeschossen.
Nun sucht der Departements-Vorsteher den Befreiungsschlag: Er weibelt in der Regierung für die Schaffung eines Staatssekretariats für Europa. Bundespräsidentin Doris Leuthard bestätigt die SonntagsBlick-Recherchen im Interview: «Ignazio Cassis hat dem Bundesrat entsprechende Ideen informell vorgestellt. Das muss jetzt aber erst einmal er selber entscheiden, was er in die Tat umsetzen möchte.»
Baeriswyl wäre kaltgestellt
Mit der neuen Behörde könnte der Freisinnige seine Diplomatin im Europadossier auf elegante Weise kaltstellen: Denn Chef der künftigen Abteilung soll jemand anders werden. Baeriswyl bliebe in diesem Szenario die Betätigung auf anderen aussenpolitischen Feldern. Meistgenannter Kandidat für den neuen Posten ist Roberto Balzaretti (52).
Der ehemalige Schweizer Vertreter in Brüssel lobbyiert hinter den Kulissen kräftig für das neue Staatssekretariat. Allerdings stösst Balzaretti gerade bei Bürgerlichen auf Skepsis: Manchen ist die Vertrautheit mit seiner polarisierenden Förderin Micheline Calmy-Rey suspekt. Kritiker wollen keinen «Calmy-Boy» in dieser Schlüsselposition.
Andere nennen Manuel Sager (62), Chef der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Aus dem Rennen ist der langjährige Chef der Europa-Direktion, Henri Gétaz: Er wechselt im Herbst 2018 als Generalsekretär zur Europäischen Freihandelsassoziation (Efta).
Fest steht, dass auf die Tessiner Frohnatur Ignazio Cassis eine Herkulesaufgabe wartet: In den Verhandlungen mit Brüssel hat sich die Landesregierung krachend vergaloppiert. Vorgänger Didier Burkhalter ist aus dem Amt geflüchtet, und Doris Leuthard, welche die Normalisierung mit Europa zum Ziel ihres Amtsjahres gemacht hatte, wurde diese Woche von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gedemütigt.
Schneider-Ammann will mitreden
Cassis’ Idee einer neuen Europa-Abteilung ist nicht neu: So hat CVP-Nationalrätin Kathy Riklin diesen Sommer im Parlament eine Motion eingereicht, mit der sie die Schaffung eines Büros für europäische Angelegenheiten verlangt. Dazu soll das Aussendepartement EDA geschwächt werden: Auch Johann Schneider-Ammanns Wirtschaftsdepartement soll bei der Europa-Behörde mitreden dürfen. Ebenfalls unterzeichnet hat den Vorstoss damals pikanterweise ein gewisser FDP-Nationalrat aus dem Tessin: Ignazio Cassis.
Was sich nach Riklins Vorschlag in der Verwaltung abspielte, offenbart einen weiteren Konflikt, den Cassis wohl noch auszutragen hat: Während der Gesamtbundesrat die Motion zur Ablehnung empfiehlt, hat sich Schneider-Ammanns Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) eifrig für eine Annahmeempfehlung eingesetzt.
Im gegenwärtigen europapolitischen Chaos wittern Schneider-Ammanns Leute die Chance, das Europa-Dossier zu kapern. Ein freisinniges Gerangel um die EU-Zuständigkeiten ist somit vorprogrammiert.
Cassis muss sich also sowohl nach aussen als auch nach innen auf energiereiche Revierkämpfe einstellen. Mit der simplen Betätigung des «Reset-Knopfs» ist es nicht länger getan.