Neuer Beschaffungsflop im VBS?
Armee will «Papier»-Raketen kaufen

Die Armee hat sich für zwei Flugabwehr-Raketensysteme entschieden, obwohl die Verantwortlichen wussten, dass die Waffen bei der internen Evaluation durchgefallen. Das zeigen vertrauliche Protokolle, die der «Rundschau» von SRF vorliegen.
Publiziert: 23.03.2016 um 19:58 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 01:15 Uhr
Foto: Diehl

Gestern hat VBS-Chef Guy Parmelin die Reissleine bei der Beschaffung neuer Flugabwehr-Systeme gezogen. Top-Kader der Armee und der Armasuisse hatten sich für zwei Lenkwaffen entschieden, die gemäss interner Evaluation zwingende Kriterien wie Reichweite und Allwettertauglichkeit nicht erfüllen. Das berichtet die Sendung «Rundschau» heute Abend. Laut Evaluation drängte sich die Verschiebung des Milliardenprojekts auf. Offenbar wurden der politischen Führung des VBS dabei wichtige Informationen vorenthalten, wie die «Rundschau» gestern berichtete.

Verantwortlich für das Projekt ist Luftwaffen-Chef Aldo Schellenberg als Vorsitzender der Projektaufsicht. Er rapportiert direkt an Armeechef André Blattmann. Der Armeechef war über den alarmierenden Stand des Projekts im Bild, informierte Verteidigungsminister Guy Parmelin aber offenbar nicht entsprechend. Am Montag konfrontierte die Rundschau das VBS mit den Recherchen und Hinweisen zu den belastenden Dokumenten. Daraufhin mussten laut Voranmeldung gestern Rüstungschef Martin Sonderegger, Armeechef André Blattmann und Luftwaffenchef Aldo Schellenberg bei Bundesrat Parmelin antraben. Am Nachmittag folgte dann die Medienmitteilung, dass das Projekt sistiert werde. 

Der umstrittene Entscheid der Projektaufsicht für die neuen Lenkwaffen fiel im Januar. Die vertraulichen Sitzungsprotokolle zeigen: die Projektaufsicht wählte die beiden Waffen, obwohl Armeeprüfer vor dem Entscheid klar festhielten, dass beide Systeme «einsatzrelevante Leistungseinschränkungen» aufweisen, sogenannte «NO-GO». Das heisst, dass beide Waffen zwingende Kriterien nicht erfüllen.

Die Beschaffungsexperten des Bundes machen in ihrer Präsentation klar, dass es nicht um kleine Unzulänglichkeiten geht und schreiben von «gravierenden Einschränkungen» bei beiden Waffen. Wie die Rundschau weiter berichtete, kommen die Spezialisten gar zum Schluss: «Entlang einer konsequenten Umsetzung des Evaluationsresultates dürfte kein System gewählt werden.»

Waffen noch gar nicht im Einsatz– Kosten explodieren

Die Schweizer Armee will zwei Waffen beschaffen, die noch gar nicht im Einsatz sind: Die deutsche IRIS-T SL in der Testphase und die britische CAMM-ER, noch in der Entwicklung.

Luftwaffenvertreter warnten gemäss Sitzungsprotokoll die Projektaufsicht vor Risiken. Ein Offizier erinnerte das hochkarätige Gremium an das letzte Rüstungsgeschäft, das in einem Debakel endete, der Beschaffung des Kampfflugzeuges Gripen. Auch dieser war noch nicht erprobt – intern sprach man von einem «Papier-Flieger» und erfüllte Anforderungen nicht. Doch die Aufsicht unter der Führung von Korpskommandant Aldo Schellenberg ignorierte die Warnungen, entschied sich gegen eine Verschiebung – und für die zwei ungenügenden Systeme.

Durch die Beschaffung der zwei Waffen entstehen gemäss interner Einschätzung «Mehrkosten». Die Projektleitergruppe bezeichnet die Finanzierbarkeit als «fraglich». Damit ist schon heute absehbar, dass das Projekt finanziell aus dem Ruder läuft. Ursprünglich mit 750 Millionen Franken budgetiert, relativierte Rüstungschef Martin Sonderegger, der ebenfalls im Bild war über den Projektstand, die Kosten gegenüber der Presse bereits auf etwa eine Milliarde. Ein Offizier warnte intern an der entscheidenden Sitzung vor doppelt so hohen Kosten.

BLICK hatte im letzten Juli, dass die Evaluation des Projektes aufgrund von Kapazitätsengpässen von der Armasuisse an externe Experten ausgelagert wurde. Sicherheitspolitiker kritisierten diesen Entscheid mehrfach, weil der französische Rüstungskonzern Thales, welche den Zuschlag für die Durchführung der Evaluation erhielt, selber mit einem möglichen Waffensystem am Start war.

Schon im Februar wies ein Bericht der «Zentralschweiz am Sonntag«  daraufhin, dass die beiden Lenkwaffen, die nun gekauft werden sollen, die Anforderungen nicht erfültten. Das Produkt «Iris-T» des deutschen Herstellers Diehl sei nicht in der Lage, bei schlechtem Wetter zu treffen. Und die Lenkwaffe «CAMM-ER» des Rüstungskonzerns MBDA wiederum schiesse «nicht hoch und vor allem auch nicht weit genug». «CAMM-ER» kommt nur auf eine Reichweite von 20 Kilometer. (eis)

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