Neue Widerspruchslösung
Nationalrat stimmt Paradigmenwechsel bei der Organspende zu

Wer nach seinem Tod keine Organe spenden möchte, soll dies künftig explizit festhalten müssen. Angehörige sollen aber eine Organspende ablehnen können. Der Nationalrat hat am Mittwoch der erweiterten Widerspruchslösung im Grundsatz zugestimmt.
Publiziert: 05.05.2021 um 12:16 Uhr
Wer nach seinem Tod seine Organe nicht spenden will, muss dies zu Lebzeiten explizit äussern. Der Nationalrat ist im Grundsatz für die sogenannte erweiterte Widerspruchslösung. (Themenbild)
Foto: LEANDRE DUGGAN

Heute gilt in der Schweiz bei der Organspende die Zustimmungslösung: Eine Organspende kommt nur dann infrage, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten einer Spende zugestimmt hat. Liegt keine Willensäusserung vor, müssen die Angehörigen entscheiden.

In der Praxis führt dies oft zu Schwierigkeiten. Seit Jahren wird deshalb über Alternativen diskutiert. Die grosse Kammer setzte sich am letzten Tag der Sondersession mit der Volksinitiative «Organspende fördern - Leben retten» sowie dem vom Bundesrat konzipierten indirekten Gegenvorschlag auseinander.

Die Initiative verlangt, dass bei der Organspende ein Systemwechsel von der derzeit gültigen Lösung der erweiterten expliziten Zustimmung zur engen Widerspruchslösung vollzogen wird. Neu soll grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass eine Person mit der Organspende einverstanden ist. Ist das nicht der Fall, müsste es schriftlich festgehalten werden.

Der Gegenvorschlag des Bundesrats sieht die Ergänzung vor, dass Angehörige auch künftig eine Organspende ablehnen können. In diesem Zusammenhang wird von der erweiterten Widerspruchslösung gesprochen. Konkret heisst das: Findet sich kein dokumentierter Wille, werden wie bisher die Angehörigen befragt. Sie könnten einer Entnahme von Organen widersprechen, wenn dies dem mutmasslichen Willen der verstorbenen Person entspricht.

Mit 154 zu 30 Stimmen bei 2 Enthaltungen stimmte der Nationalrat dem Gegenvorschlag grundsätzlich zu. Kritik kam einzig von einem Teil der SVP-Fraktion. Erich von Siebenthal (SVP/BE) brachte staatspolitische Bedenken vor. Er gab zu bedenken, dass es zu so einer zentralen Frage eine Volksabstimmung brauche. Bei Annahme des Gegenvorschlags sei es dagegen wahrscheinlich, dass die Initianten ihr Begehren zurückzögen und eine Volksabstimmung umgangen werde.

Auch von anderen bürgerlichen Ratsmitgliedern gab es kritische Stimmen, die bei der Einwilligung in die Organspende einen dritten Weg gehen wollen, wie dies die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) vorgeschlagen hatte. Demnach sollen Personen regelmässig aufgefordert werden, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und anzugeben, ob sie ihre Organe spenden wollen oder nicht.

Diese sogenannte Erklärungsregelung, die eine klare Erklärung des Spendewillens beinhaltet, trage dem Selbstbestimmungsrecht am besten Rechnung, sagte Marianne Streiff-Feller (EVP/BE). Die grundsätzlichen Gegner der erweiterten Widerspruchslösung waren schliesslich klar in der Minderheit.

Die Befürworter einer Reform verwiesen auch auf das Ausland. Die meisten europäischen Länder kennen heute eine Widerspruchslösung, bei der auch die Angehörigen einbezogen werden. Diese Länder haben alle eine deutlich höhere Spenderate als Deutschland, die Schweiz oder Grossbritannien, wo die Zustimmungslösung gilt.

Konsens herrschte in der über vierstündigen Nationalratsdebatte darüber, dass die heutige Situation bei der Organspende unbefriedigend ist. «2019 befanden sich über 1400 Menschen auf der Warteliste für ein passendes Organ, darunter auch Kinder», sagte Kommissionssprecherin Flavia Wasserfallen (SP/BE). Für viele komme jede Hilfe zu spät, weil nicht genügend Spenderorgane zur Verfügung stünden. «Die Beibehaltung des Status quo ist deshalb keine Option.»

Manuela Weichelt-Picard (Grüne/ZG) plädierte dafür, dass die Behörden alles dafür unternehmen müssten, dass der Wille für oder gegen eine Spende festgehalten werde. Sie erinnerte daran, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Organspende grundsätzlich begrüsse, viele aber ihren Willen nicht schriftlich festhielten. Dazu komme, dass viele Angehörige die Organspende verweigerten, weil sie den Willen der verstorbenen Person nicht kennen würden.

Die Ratsmitglieder legten in der Debatte ihr Parteibüchlein beiseite. «Es geht hier nicht um rechts oder links, um Frauen oder Männer. Es geht darum, Leben zu retten», sagte Céline Amaudruz (SVP/GE).

Nach dem grundsätzlichen Ja zum Gegenvorschlag berät der Nationalrat die Änderung des Transplantationsgesetzes nun im Detail. Die zuständige Kommission schlägt verschiedene Präzisierungen vor. So soll in der Vorlage die Möglichkeit einer Zustimmung zur Organspende ausdrücklich erwähnt werden.

Ebenso will die Kommission eindeutig festhalten, dass der Wille des oder der Verstorbenen Vorrang hat vor demjenigen der nächsten Angehörigen. Hat jemand den Entscheid über die Organspende einer Person ihres Vertrauens übertragen, so tritt diese an die Stelle der nächsten Angehörigen.

Vorschläge, die darauf abzielen, die Spendebereitschaft zu fördern oder deren Dokumentation zu erleichtern, wurden in der Kommission knapp abgelehnt.

Die Voraussetzungen für eine Spende in der Schweiz werden auch mit einem Systemwechsel gleich bleiben wie heute: Organe spenden können nur Personen, die im Spital einen Hirntod infolge Hirnschädigung oder Herz-Kreislauf-Stillstand erleiden. Verstirbt jemand ausserhalb des Spitals, ist eine Organspende nicht möglich.

(SDA)

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