Seit die grüne Welle die Schweizer Politlandschaft bei den Wahlen durchgeschüttelt hat, kommt man um eine Frage nicht herum: Haben die Grünen Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat?
Die Partei gewann gemeinsam mit den Grünliberalen sagenhafte 26 Nationalratssitze dazu. Die Grünen sind neu die viertstärkste Kraft in der grossen Kammer – noch vor der CVP. Grünen-Präsidentin Regula Rytz forderte daher im BLICK eine neue Zauberformel. Die alte, die den drei grössten Parteien zwei Sitze und der viertstärksten Partei einen Sitz im Bundesrat zuspricht, habe ausgedient.
Leuenberger: «Das muss korrigiert werden»
Nun melden sich erstmals diejenigen zu Wort, die das Gremium am besten kennen – ehemalige Bundesräte. Für Moritz Leuenberger (73), langjähriger SP-Verkehrsminister, ist die Ausgangslage nach den Wahlen eindeutig: «Die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrats und des Parlaments stimmen nicht mehr überein», so Leuenberger zu BLICK. «Das muss so bald als möglich korrigiert werden.»
Allerdings, schränkt er ein, störe eine Abwahl immer auch das fein austarierte Gleichgewicht innerhalb des Bundesrats: Denn damit werde nicht nur eine Partei, sondern immer auch eine bestimmte Sprachregion oder ein Geschlecht abgewählt. Die Anpassung des Gremiums erfolge deshalb meist nicht «subito», sondern erst mit einer gewissen Verzögerung, so Leuenberger. Und fügt in Bezug auf den grünen Bundesrat an: «Aber hoffentlich müssen wir nicht allzu lange warten!»
Leuthard: «Habe noch nie eine Abwahl für gut befunden»
Ähnlich äussert sich die ehemalige CVP-Magistratin Doris Leuthard (56): «Diese Diskussion ist klar zu führen», so die Aargauerin. Doch auch Leuthard betont, dass die Schweiz bisher stets von einer stabilen Regierung profitiert habe. «Ich habe eine Abwahl noch nie für gut befunden.» An einem ungerechtfertigten Sitz dürfe dennoch nicht ewig festgehalten werden. «Spätestens nach vier Jahren oder auf das Ende der nächsten Legislatur muss man korrigieren können», so Leuthard.
Am gefährdetsten ist – Stand heute – der FDP-Sitz von Bundesrat Ignazio Cassis (58). Denn die Freisinnigen haben im Nationalrat bloss einen Sitz mehr als die Grünen, stellen mit Cassis und Karin Keller-Sutter (55) aber gleich zwei Regierungsmitglieder. Und Keller-Sutter steht im Gegensatz zu Cassis nicht seit Monaten in der Kritik.
Sogar Couchepin sieht eine neue Formel kommen
Selbst für FDP-Doyen und alt Bundesrat Pascal Couchepin (77) ist klar: Die Verteilung der Bundesratssitze ist nicht in Stein gemeisselt. «Die Zauberformel wird sich in Zukunft verändern», so Couchepin zur Westschweizer Zeitung «Le Temps».
Allerdings geht der Freisinnige nicht davon aus, dass die Schweiz bereits in den nächsten vier Jahren einen grünen Bundesrat haben wird. «Hierzulande warten wir in der Regel ein, zwei Wahlen ab, bevor wir tatsächlich eine Änderung vornehmen», so Couchepin.
Ogi will neun Bundesräte
Eine grundsätzliche Änderung schlägt alt Bundesrat Adolf Ogi (77) vor. «Wir sollten nun die Kraft haben, über unseren Schatten zu springen, und über eine Aufstockung des Bundesrats auf neun Mitglieder diskutieren. Diese sogenannte Staatsleitungsreform sei schliesslich bereits während seiner Zeit im Bundesrat Thema gewesen – allerdings chancenlos.
Auch jetzt ginge es nicht von heute auf morgen, aber in den nächsten vier bis acht Jahren. «Ein neunköpfiger Bundesrat in Kombination mit einem dreijährigen Bundespräsidium würde sicherstellen, dass die Schweiz international konkurrenzfähig bliebe», so Ogi. Und: «Selbstverständlich böte ein grösseres Gremium auch Platz für einen Grünen-Bundesrat.»