Frau Gössi, wann haben Sie sich das letzte Mal so richtig über Christian Levrat geärgert?
Petra Gössi: Nicht über Herrn Levrat, aber über seine Partei. In der letzten Session beschloss das Parlament Steuererleichterungen für Familien. Und die SP kündigte nicht nur ein Referendum an, sondern stellte jene Familien, die immer die vollen Lasten zu tragen haben, als Schmarotzer dar. Das hat mich richtig aufgeregt.
Christian Levrat: Wir sind Profis und trennen zwischen Politik und Person. Aber klar ärgere ich mich, gerade wenn die FDP mit besagtem Kinderabzug ein Steuergeschenk für Reiche durchdrücken will.
Derzeit wird man den Eindruck nicht los, dass im Wahlkampf die grossen Debatten ausbleiben. Wie wollen Sie so die Menschen an die Urnen bringen?
Levrat: Das bestreite ich! Wir diskutieren so intensiv über die Klimapolitik wie noch nie. Mit dem Ergebnis, dass der Ständerat mit einer ganz klaren Mehrheit das CO2-Gesetz beschlossen hat. Und in der Gesundheitspolitik machen SP und CVP mittels Initiativen konkrete Vorschläge, um die Prämienlast gerechter zu verteilen.
Gössi: Ich teile die Einschätzung ebenfalls nicht. Die FDP hat schon vor einem Jahr ihre Vision unserer Heimat vorgestellt. Und in der Klimapolitik haben wir unsere Mitglieder befragt und einen Beschluss der Delegierten erzielt. Dieser Beschluss bildet nun die Grundlage für die freisinnige Klimapolitik.
Levrat: Nachdem Ihre Partei zuvor alles sabotierte. Nach den Wahlen ist Ihre grüne Wende rasch vergessen.
Gössi: Falsch. Unsere Parlamentarier haben innert kurzer Frist bewiesen, dass es ihnen ernst ist. Was mir aber auffällt: Es ist für die Parteien zurzeit unmöglich, Themen zu setzen. Wir müssen uns in den Medien zu Wahlumfragen äussern – doch die Massnahmen, die wir zum Beispiel gegen die drohende Wirtschaftskrise präsentieren, werden nicht aufgenommen. Darum bauen wir unsere eigenen Kanäle auf, um unsere Lösungen öffentlich zu machen.
Wo Sie ungestört Ihre Propaganda verbreiten können.
Gössi: Nirgends wird lauter widersprochen als in den sozialen Medien. Oder wenn Sie wie die FDP die Menschen zu Hause besuchen, dann müssen Sie diskutieren können.
Levrat: Es ist ein Mythos, dass Wahlen im Netz gewonnen werden. Die SP setzt seit Jahren auf den persönlichen Kontakt mit den Menschen. Nun ziehen die anderen Parteien nach.
In der Rückschau auf die vergangenen vier Jahre sprechen aber etliche Parlamentarier von einer «verlorenen Legislatur», mit der Begründung, dass die Politik in wichtigen Dossiers nicht vorankam.
Levrat: Dafür ist der Rechtsblock im Parlament verantwortlich. Die Legislatur begann mit dem demonstrativen Schulterschluss von FDP, SVP und CVP sowie einem Programm, das dem Wunschzettel von Economiesuisse ziemlich nahekommt.
Gössi: (Lacht)
Levrat: Doch! Zum Glück konnten wir die Rechten früh stoppen – mit dem klaren Volksnein zur USR III. Im zweiten Anlauf gelang es dann, die Steuerreform mit der AHV-Finanzierung zu koppeln. Es ist bezeichnend, dass dieses Projekt im Ständerat angestossen wurde. Anders als im Bundesrat und im Nationalrat haben SVP und FDP in dieser Kammer keine Blockade-Mehrheit. Andere grosse Themen blieben auf der Strecke. Sonst würden nicht Hunderttausende für das Klima demonstrieren und eine halbe Million Frauen streiken.
Gössi: Ich frage mich, in welcher politischen Realität Herr Levrat lebt. Im Nationalrat haben SVP und FDP theoretisch 101 von 200 Sitzen, nicht aber im Ständerat. Von weit über 500 Schluss- und Gesamtabstimmungen setzte sich diese Mehrheit in nur sechs Fällen durch. Das sind 0,9 Prozent aller Abstimmungen.
Also doch keine verlorene Legislatur?
Gössi: Nein, aber eine mit wechselnden Mehrheiten. Die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative realisierten FDP, SP und CVP gemeinsam. Und als wir die Unternehmenssteuerreform verloren haben, bot die FDP Hand für neue Lösungen. Als die SP bei der Reform der Altersvorsorge den Kürzeren zog, schaltete sie dagegen auf stur und blockiert, wo sie nur kann.
Levrat: Der Reihe nach. 2015 jubelten Sie über den Gewinn der Macht. Nun, da Sie gescheitert sind, finden Sie plötzlich, die Mehrheit war zu knapp. Darum ist unser Ziel klar: Wir wollen die rechtsbürgerliche Mehrheit brechen, um Sie, Frau Gössi, zu zwingen, wieder etwas konstruktiver zu politisieren.
Die Reform der Altersvorsorge scheiterte, in der Europapolitik herrscht Stillstand. Wenn zwei derart wichtige Dossiers blockiert sind, kann die Legislatur doch kein Erfolg gewesen sein.
Gössi: Dank Bundesrat Ignazio Cassis wird überhaupt über den Inhalt des Abkommens mit der EU diskutiert.
Levrat: Er stellt den Lohnschutz in Frage und gefährdet damit fahrlässig den erfolgreichen bilateralen Weg.
Gössi: Nein, er hat endlich aufgezeigt, wo die Probleme liegen.
Levrat: Cassis verhindert eine Lösung!
Gössi: Niemand in Bern nahm sich des Themas an. Erst jetzt ist der Bundesrat so weit, dass er dem Vertrag zustimmt, sobald wir gewisse Präzisierungen erzielt haben. Und was tun SP und Gewerkschaften? Sie verweigern jede Diskussion.
Klingt nicht nach einer baldigen Einigung.
Levrat: Warten wir's ab. Die Positionen der Parteien liegen gar nicht weit auseinander. SP, CVP und FDP sind sich einig: Es braucht bei den Verhandlungen mit der EU Fortschritte beim Lohnschutz, bei der Unionsbürgerrichtlinie und bei den staatlichen Beihilfen.
Ex-FDP-Präsident Philipp Müller forderte jüngst im BLICK die Abschaffung des Rentenalters. Von Ihnen, Frau Gössi, hört man nichts dergleichen. Haben Sie Angst vor den Wählern?
Gössi: In der Schweiz muss man Schritt für Schritt vorwärtsgehen. Das Rentenalter 65/65 ist mehrheitsfähig, auch bei den Frauen. Langfristig kommen wir um eine Erhöhung des Rentenalters aber nicht herum: Bei der Einführung der AHV betrug die Lebenserwartung 68, heute liegt sie bei über 80 Jahren. Die SP hingegen will die AHV auf dem Buckel der Jungen ausbauen!
Levrat: Von der AHV profitieren Jung und Alt. Die Generationen gegeneinander auszuspielen, ist falsch, da mache ich nicht mit. Das Problem ist, dass viele Menschen schon vor dem ordentlichen Pensionsalter aus dem Arbeitsmarkt fallen. Damit führt jede Erhöhung des Pensionsalters zu einer Senkung der Renten. Und wir sind dagegen, die AHV allein auf dem Buckel der Frauen zu reformieren. Sie erhalten schon heute bis zu 40 Prozent tiefere AHV-Renten.
Gössi: Das Frauenrentenalter lag bei der Einführung der AHV bei 65 Jahren für beide Geschlechter! Später wurde es auf 62 Jahre gesenkt – angeblich weil Frauen schwache Wesen sind, denen man eine so lange Arbeitszeit nicht zumuten kann. Ich glaube, diese Zeiten haben wir überwunden.
Die Diskussion zeigt es: Sowohl in der Europafrage als auch bei der AHV liegen Ihre Positionen ziemlich weit auseinander. Was stimmt Sie denn optimistisch, dass sich in den nächsten vier Jahren trotzdem eine Lösung finden lässt?
Gössi: Die Sozialpart- nerschaft funktioniert wieder besser als auch schon, das stimmt mich positiv.
Levrat: Es braucht einen Mehrheitswechsel. Ich bin optimistisch, dass die rechte Mehrheit gekippt wird und konstruktivere Kräfte sowohl im National- als auch im Ständerat eine Mehrheit haben werden. Wenn sich die FDP aus der Abhängigkeit der SVP befreit und zu einem vernünftigeren Kurs zurückfindet, ist sie selbstverständlich willkommen, gemeinsam mit uns Lösungen zu erarbeiten.
Gössi: Es würde mich freuen, wenn die SP endlich nicht mehr nur eine Klientelpolitik betreiben würde, sondern sich wirklich für das Wohl aller einsetzt. Nicht wie heute, wo sich die Linke ständig gegen jene richtet, welche die volle Leistung tragen.
Zum Schluss: Was unternehmen Sie am Montag nach den Wahlen?
Levrat: Ich werde mich auf den zweiten Wahlgang der Ständeratswahlen vorbereiten.
Gössi: Bei uns findet die kantonale Delegiertenversammlung statt.
Kein Aufatmen, keine Pause?
Levrat: Wirklich erholen kann man sich erst an Weihnachten – nach den Bundesratswahlen.