Vor zwei Jahren drohte das Leben in ihrem trauten Heim jäh zu Ende zu gehen. Nach über 50 Jahren im schmucken Reihenhaus in der Nähe von Bern. Marlies Müller* (88) stürzte, brach sich beide Arme, ein Bein. Konnte danach weder Treppensteigen noch sonst irgendwelche Dinge selbständig erledigen. Für ein paar Wochen musste sie in die Rehabilitation. Das bedeutete plötzlich: leben im Pflegeheim.
Ein Gedanke, mit dem sich Müller überhaupt nicht anfreunden konnte. «Ich habe vom ersten Tag an gesagt, ich gehe wieder nach Hause», erzählt sie rückblickend. Denn: Dort hat sie erlebt, was für ein Privileg es ist, auch im Alter in den eigenen vier Wänden leben zu können. «Zu Hause kann ich machen, was ich will. Und ich weiss, wo meine Dinge sind», sagt Müller.
Heute wohnt sie noch immer in ihrem Haus – auch dank der Haushaltshilfe, die sie nach dem Unfall engagiert hat. Einmal die Woche kommt diese für drei Stunden zu Müller. Wäsche waschen und kochen kann die Seniorin noch selber. Aber ihre Betreuerin kauft für sie ein, putzt, legt ihr die Kleider zusammen, bügelt sie. Für all das zahlt Müller 49 Franken die Stunde.
Betreuungsbranche wird boomen
In den kommenden 20 Jahren werden in der Schweiz eine Million Menschen aus der Babyboomer-Generation 80-jährig. Viele von ihnen möchten dann zu Hause betreut werden. So wie Marlies Müller. Für den Berner Gesundheitsökonomen Heinz Locher (80) ist darum klar: «Für diese Generation braucht es mehr Betreuung. Und zwar zu Hause, nicht in Alters- oder Pflegeheimen.» Er geht davon aus, dass dieser Markt in den kommenden Jahren boomen und Milliardenumsätze generieren wird. Trotzdem sieht Locher grosse Probleme auf die Branche zukommen. Und damit auch auf uns als Gesellschaft.
Denn: Bereits heute gibt es personelle Engpässe im Pflegebereich. Diese dürften sich künftig noch verstärken. Vor allem, weil viele Arbeitgebende schlechte Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeitende geschaffen hätten, wie Locher kritisiert. Er weiss, wovon er spricht. Als Locher vor vier Jahren für seine Familie eine private Betreuung brauchte, hat er erfahren, wie ungerecht der Markt für Betreuende ist.
Die damalige Pflegehelferin: Claudine Chiquet (52). Sie war in jener Zeit als Caregiverin angestellt beim Seniorenbetreuungsdienst Home Instead. Das Unternehmen wurde 1994 in den USA gegründet und bietet heute seine Dienstleistungen weltweit an über 1000 Standorten an – auch in der Schweiz. Von den 52 Franken pro Stunde, die Locher an Home Instead für die Betreuung bezahlte, landeten am Ende nur 21 Franken auf Chiquets Konto.
Revolution in der Branche
Was Chiquet damals am meisten Bauchschmerzen verursachte: Als Betreuerin hatte sie kein gesichertes Monatseinkommen. «Kunden konnten mich kurzfristig abbestellen, wenn sie keine Betreuung brauchten», erzählt Chiquet. Dann verdiente sie: nichts! Sie trug also das gesamte unternehmerische Risiko. Auch habe es wenige Schulungen oder Weiterbildungen für das Personal gegeben.
Um gegen solche Missstände anzukämpfen, haben Locher und Chiquet 2021 das Start-up Care at Home Schweiz gegründet. Damit wollen sie im Raum Bern für die Betreuung betagter Menschen im eigenen Heim sorgen – und die Revolution in der Branche ankurbeln. Mittlerweile ist ihr Team auf zehn Personen mit jeweils verschiedenen Pensen angewachsen. Die beiden bezahlen ihren Angestellten einen monatlichen Fixlohn von 5000 Franken auf ein 100-Prozent-Pensum inklusive 13. Monatslohn und regelmässigen Weiterbildungen. Ein Novum im hart umkämpften Markt.
Ein Grossteil der Betreuenden in der Schweiz hat einen Pflegehelferkurs absolviert. Dieser dauert circa 42 Stunden und kostet rund 2000 Franken, je nach Anbieter. «Eine Ausbildung, die oft in der Sackgasse endet», erklärt Locher. Weil viele Arbeitgebende nach dem Grundkurs keine Weiterbildungen finanzierten. Nur mit regelmässigen Schulungen könnten allerdings längerfristig genügend Fachkräfte ausgebildet und so der Personalmangel bekämpft werden, sind Chiquet und Locher überzeugt.
«Dankbar für die Hilfe»
Doch das allein reiche nicht. «Kommunikation auf Augenhöhe und echte Wertschätzung gegenüber den Angestellten sind ebenfalls wichtig», sagt Chiquet. Vom motivierten Personal würden wiederum die Kundinnen und Kunden profitieren. Das bestätigt Marlies Müller. Auch sie lässt sich nämlich von Claudine Chiquet und ihrer Firma Care at Home Schweiz betreuen. «Für mich war wichtig, dass nicht jede Woche jemand anderes zu mir kommt», begründet die Seniorin ihre Wahl.
Auch wenn Müller in ihrem kleinen Reich noch recht selbständig ist: Bei den Dingen, die ihr schwerfallen, steht ihr Chiquets Mitarbeiterin zur Seite. «Am Anfang war es nicht einfach, Hilfe anzunehmen. Das musste ich erst lernen», erzählt Müller. Mittlerweile habe sie sich gut daran gewöhnt. Müller freut sich, dass – nebst der Familie – regelmässig jemand nach ihr sieht. Dass sie nicht mehr einkaufen und die Wäsche falten muss. Dass sie Gesellschaft hat, wenn ihr danach ist. «Dafür bin ich dankbar!»
* Name geändert