BLICK: Herr alt Bundesrat, wie wichtig ist Ihnen die Demokratie?
Moritz Leuenberger: Mein ganzes Leben ist in Demokratie eingebettet. Die direkte Demokratie bedeutet mir alles.
Diese Woche stellten Sie sich vor Recep Erdogan, der gegen die Demokratie einen Feldzug führt. Harsch kritisierten Sie das Schmähgedicht von Jan Böhmermann gegen den türkischen Präsidenten.
Die erste Behauptung ist grundfalsch, die zweite goldrichtig. Ich kritisierte Erdogan massiv. Eine Demokratie wie Deutschland oder die Schweiz fordert aber einen kultivierten Umgang, selbst mit politischen Feinden. Beschimpfungen im Analbereich lenken vom Skandal Erdogans nur ab.
Sie treten im Zürcher Bernhard Theater auf. Es ist die Pflicht von Künstlern, Mächtige mit Worten in die Schranken zu weisen.
Selbstverständlich gehört zur demokratischen Auseinandersetzung das Gefecht mit Worten. Das Wort ist die Waffe der Demokratie.
Böhmermann nutzt diese Waffe satirisch.
Das ist keine Satire!
Sondern?
Plumpste, primitivste Beschimpfung. Um unverletzbar zu bleiben, hängt er sich das Satire-Mäntelchen um. Mit Satire aber hat das nichts gemein, es sind primitive Ausfälligkeiten.
Indem Sie Böhmermann kritisieren, stützen Sie Erdogan!
Dagegen wehre ich mich! Selbstverständlich ist Erdogan ein Diktator. Er gehört angegriffen, aber mit einer politischen Auseinandersetzung.
Als im Januar 2015 Terroristen Satiriker von «Charlie Hebdo» töteten, reisten viele Staatschefs nach Paris. «Charlie Hebdo» ist verletzender als Böhmermann.
Selbst Bundesrätin Doris Leuthard sagte damals, Satire dürfe nicht alles. Sie sagte es zwar zum falschen Zeitpunkt. Aber sie hatte recht: Auch Satire untersteht dem Gesetz.
Wie weit darf Satire gehen?
Ein humorvoller und kabarettistischer Kontext erlaubt sehr viel mehr als eine direkte politische Auseinandersetzung. Die Narrenkappe und den Hofnarr gab es schon im Mittelalter. Alles aber ist nicht erlaubt.
Wer sagt, was zulässig ist? Staat? Justiz? Das Publikum?
Demokratisch erlassene Gesetze! In Deutschland kümmert sich die Justiz um das Böhmermann-Gedicht. Bei uns wäre das auch der Fall.
Der Grundsatz muss die Meinungsäusserungsfreiheit sein.
Klar, aber die Meinungsäusserungsfreiheit erlaubt nicht alles. Ich kann Ihnen nicht die Faust ins Gesicht schlagen und sagen, das sei satirisch gemeint gewesen.
Es wäre physische Gewalt, etwas völlig anderes.
Böhmermanns Gedicht ist verbale Gewalt. Und in einer Demokratie lässt man sich nie auf eine gewalttätige Ebene herab. Erdogan zu sagen, dass er – ich kann Böhmermann hier nicht einmal zitieren, sonst hat der BLICK ein juristisches Problem.
Ein Künstler darf Politikern doch den Spiegel vorsetzen.
Jemandem zu sagen, er habe einen zu kurzen S… und er f… Geissen? Das ist nicht einen Spiegel vorhalten. Das ist bösartige Beleidigung.
Die nur einem wehtut – dem Diktator.
Das vorpubertäre Schmähgedicht verharmlost die politische Gefahr Erdogans. Und das Unrecht, das von ihm ausgeht.
Warum ist es auch in der Schweiz strafbar, ein fremdes Staatsoberhaupt zu beleidigen?
Um die Interessen der Schweiz zu schützen. Die Beleidigung eines fremden Staatsoberhaupts kann unser Land in Schwierigkeiten bringen. Wie der Fall Böhmermann in Deutschland jetzt gut zeigt.
Sie selbst stehen nun auf der Kultur-Bühne. Weil Ihnen die politische Bühne fehlt?
Beim Rücktritt sagte ich: «Wir treten auf, wir spielen, wir treten ab.» Ich vergleiche mein ganzes Leben mit einem Auftritt im Theater. Aber ich bin nicht etwa aus dem Bundesrat zurückgetreten, damit ich die Bernhard-Matinée leiten kann. Sonst hätte ich es viel früher getan.
Weil das Theater mehr Spass macht als der Bundesrat?
Das sind zwei völlig verschiedene Sachen. Der Bundesrat bedeutet direkten und grossen Einfluss. Den suchte ich.
Und das Theater?
Das ist der kulturelle Beitrag. Er pflegt eine andere Sprache als die Politik. Aber schon im Amt nutzte ich für viele meiner Auftritte kabarettistische Elemente. Ich brauchte theatralische Mittel für die Politik.
Sie machten Theater in der Politik, jetzt Politik im Theater?
Verkürzt stimmt das vielleicht. Aber Kultur sollte nicht direkt Politik machen. Sonst wird sie zur politischen Agitation.
Wie zuletzt im Neumarkt-Theater, das den Zürcher SVP-Nationalrat Roger Köppel angriff?
Bedient sich die Kunst politischer Agitationsmitteln, wird sie selber zur blossen Politik. Dabei will sie diese ja entlarven.
Dem Neumarkt-Theater möchten Politiker jetzt die Subventionen streichen.
Was ich falsch finde. Agiert ein Künstler mit politischen Mitteln, muss er mit einer politischen Antwort rechnen. So ungerecht diese sein kann.
Wo wir wieder bei Böhmermann wären. Wie stark darf die Politik in die Kultur eingreifen?
Wer ist die Politik?
Der Staat. Das sind die Stimmbürger. Wir haben eine Verfassung und ein Strafgesetz. Das gilt für alle, auch für Künstler.
Sie interviewen im Theater Gäste. Wären Sie gerne Journalist?
Nein, ich frage ja nicht in der Art, wie Sie das tun, oder Schawinski. Ich löchere die Leute nicht. Sie sollen sich selber sein und wohlfühlen. Ich will niemanden in die Enge treiben. Und ich will mich nicht in den Vordergrund stellen. Ich bin kein investigativer Journalist.
Wenn nicht Journalist, was sind Sie?
Gastgeber auf der Bühne.
Welchen Interview-Stil pflegen Sie im Theater – den aggressiven von Roger Schawinski oder den zurückhaltenden von Larry King?
Ich orientiere mich an niemandem, ich suche einen eigenen Stil. Dass Schawinski bohrt, ist seine Qualität. Harald Schmidt war mir ein bisschen zu egozentrisch. Er hinter dem Schreibtisch und der Befragte auf dem kleinen Stuhl. Ich will wie ein privater Gastgeber sein, wo noch ein paar wenige zuhören. Es ist auch keine Fernsehsendung, wo alles atemlos abläuft. Ich erlaube mir auch Denkpausen.
Sie galten als Bundesrat als launischer Interview-Partner …
… ja, ich weiss …
… es gab prächtige Gespräche, wenn Sie gut drauf waren, schwierige, wenn Sie verstimmt waren …
… das hing ja manchmal auch vom Journalisten ab.
Wie stellen Sie sich auf die Launen Ihrer Gäste ein?
Meine Gäste sind nicht verpflichtet, zu kommen. Und ich frage alle, was sie nicht gefragt werden wollen. Das respektiere ich. Bei einem Journalisten ist es umgekehrt. Sagt ihm einer, er dürfte etwas nicht ansprechen, tut er es erst recht. So versteht er seinen Beruf.
Wie überwinden Sie das Lampenfieber?
Indem ich nicht allzu viel trinke am Abend vorher. Angespannt bin ich immer ein bisschen.
Die erste Frage setzt den Ton. Wie eröffnen Sie am Sonntag das Gespräch mit Eveline Widmer-Schlumpf?
Das weiss ich noch nicht. Ich lasse mich von der Spontanität des Augenblicks leiten. Ich bin nicht der, der alles minutiös plant.
Sie bereiten sich nicht vor?
Doch, natürlich. Wir werden darüber reden, was das Leben für sie nach dem Rücktritt bedeutet. Es wird kein Interview sein, sondern ein Gespräch. Ich habe ihr gesagt, sie solle auch mich fragen. Das habe ich schon mit Emil Steinberger getan. Deshalb wurde das so lustig.
Politisch steht Widmer-Schlumpf auf der anderen Seite als Sie. Hilft das dem Gespräch?
Die Parteizugehörigkeit wird von aussen masslos überschätzt. Im Bundesrat ist sie kaum von Bedeutung. Viel wichtiger ist, ob jemand aus der deutsch- oder der französischsprachigen Schweiz kommt. Ob Frau oder Mann und die Art, wie man ein Problem anpackt.
In den letzten Jahren sollen Ueli Maurer und Johann Schneider-Ammann meist 2:5 unterlegen sein.
Ich glaube nicht, dass das stimmt. Als ich im Bundesrat war, hat man auch solche Sachen erzählt. Die SP sagte, ich sei stets überstimmt worden. Was falsch war. Es geht im Bundesrat nicht so zu, wie man aussen erzählt.
Wie geht es denn zu?
Man findet von Fall zu Fall Mehrheiten. Es werden viele Kompromisse gefunden. Abstimmungen gibt es selten. In mehr als 90 Prozent der Fälle werden Lösungen erarbeitet, hinter denen alle stehen. Argumente und Fakten sind wichtiger als die Partei.
Sie sassen mit Widmer-Schlumpf im Bundesrat. Sind Sie da nicht befangen bei einem Interview?
Ich bin ja eben kein Journalist. Es gibt aber auch genug Interviews, wo Journalisten den Politiker hofieren, den sie verehren. Ich will Frau Widmer nicht löchern, ich will, dass sie sich öffnet.
Widmer-Schlumpf hat Christoph Blocher aus dem Bundesrat gedrängt. Waren Sie damals glücklich über diese Rochade?
Christoph Blocher war mein politischer Gegner. Mit Eveline Widmer-Schlumpf fand ich manchen Kompromiss, der vorher nicht möglich war. Für mich war das ein Fortschritt.
Das war vielleicht gut für den Bundesrat. Es machte Blocher zum verletzten Tier – und bescherte der Schweiz fast ein Jahrzehnt politischer Unruhe.
Man weiss nicht, wie es gekommen wäre ohne Abwahl. Damals ist ein SVP-Vertreter durch eine SVP-Vertreterin ersetzt worden, die weit konsensfähiger war. Aber das ist Geschichte, über die ich nicht mehr rede.
Auch nicht mit Widmer-Schlumpf?
Ich werde mit ihr sicher nicht über Blocher reden. Die Matinee ist ja keine Polit-Show.
Keine Geschichte prägte die Schweiz in den letzten Jahren so sehr wie die Folgen der Blocher-Abwahl. Das lassen Sie einfach aus?
Jas, es geht mir um das jetzige Leben von Eveline Widmer-Schlumpf.
Widmer-Schlumpf ist nicht mehr im Bundesrat. Blocher hat mehr Einfluss denn je. Hat er gewonnen?
Die beiden haben vollkommen verschiedene Rollen und nie das Gleiche gesucht. Sie war Justiz- und später Finanzministerin, hat das sehr gut gemacht. Er betrachtet sich als Oppositions-Leader. Was ja völlig falsch ist. Wir haben in der Schweiz kein System aus Opposition und Mehrheit. Es gibt keine Classe Politique. Wir haben die direkte Demokratie.
Seit 100 Tagen ist Widmer-Schlumpf nicht mehr im Bundesrat, Sie seit bald sechs Jahren. Was raten Sie ihr?
Es käme mir nicht im Traum in den Sinn, ihr etwas zu raten. Sie ist eine selbständige Frau.
Holten Sie bei keinem alt Bundesrat einen Rat, als Sie zurücktraten?
Nein, das Leben nach dem Amt muss jeder selber suchen und finden.
Sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben nach dem Bundesrat?
Es ist ja alles noch im Fluss. Die Bernhard-Matinée gefällt mir jedenfalls.
Sie sagten mir damals, als Sie zurücktraten, Sie suchten eine Herausforderung in einem anderen Bereich.
Da war ich noch Hamster im Rad. Deshalb bin ich ja zur Implenia gegangen. Ich dachte, ich müsste sofort weiterarbeiten. Heute habe ich andere Werte. Ich muss nicht mehr dauernd rennen.