«Mit meinem Kind trage ich zum Klimawandel bei»
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Philosoph über Nachhaltigkeit:«Mit meinem Kind trage ich zum Klimawandel bei»

Moralphilosoph zur Debatte über Nachhaltigkeit
«Mit meinem Kind trage ich zum Klimawandel bei»

Nichts produziert so viel CO2 wie ein Mensch. Wer Kinder will, müsse sich der Debatte stellen, findet der Zürcher Moralphilosoph Stefan Riedener.
Publiziert: 14.04.2020 um 08:44 Uhr
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Aktualisiert: 25.04.2020 um 09:11 Uhr
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Nichts produziert so viel CO2 wie ein Mensch.
Foto: DUKAS
Jenny Keller, «Beobachter»

Sie sind gerade Vater geworden. Fühlen Sie sich schuldig für all das CO2, das Sie damit in die Welt setzen?
Stefan Riedener: Nein, ich fühle mich nicht schuldig. Man darf auch heute noch ein Kind haben. Aber ich bin mir bewusst, dass ich damit zum Klimawandel beitrage. Ich versuche das auf andere Art zu kompensieren: indem ich noch weniger fliege, auf pflanzliche Ernährung setze, nachhaltig investiere und meinem Kind diese Werte auch vermitteln werde.

Der CO2-Ausstoss ist aber kaum zu kompensieren, selbst wenn man sehr bewusst lebt.
Das stimmt. Langfristig wird ein Kind sehr viel mehr Treibhausgase produzieren, als wenn ich hin und wieder fliege oder Fleisch esse. Allerdings kann ein Kind auch sehr viele positive Wirkungen haben. Es ist an sich gut, wenn ein zusätzlicher Mensch ein lebenswertes Leben führen darf. Ausserdem trägt jede neue Generation etwas zur kulturellen und technologischen Weiterentwicklung bei. Gerade das Bewusstsein für den Klimawandel ist ja dank der Klimajugend stark gestiegen. Nicht zuletzt werden neue Generationen zum Beispiel auch das Sozialsystem mittragen.

Soll das Kinderhaben bald keine Privatsache mehr sein?
Das ist es schon heute nicht mehr. Ob und wie viele Kinder wir haben, müssen wir anderen gegenüber verantworten. Wir müssen in der Lage sein, eine Antwort zu geben auf die Frage, warum wir soundso viele Kinder haben. Das gilt allerdings nicht für alle Fragen des persönlichen Lebens. Wenn mich jemand fragt, weshalb ich in einem gelben statt einem blauen Pyjama schlafe, kann ich sagen: Das geht dich nichts an. Denn diese Entscheidung betrifft niemanden. Wenn aber zum Beispiel jemand aus Bangladesch wissen will, warum ich fünf Kinder habe, kann ich nicht so antworten. Meine Entscheidung betrifft diese Person. Ihr Land könnte im Meer versinken wegen des Klimawandels, zu dem mein Kind beiträgt.

Was wäre Ihre Antwort auf die Frage aus Bangladesch?
Dass ein Kind zentral zu meiner Vorstellung eines für mich gelungenen Lebens gehört. Es ist mir extrem wichtig, Vater zu sein. Und entsprechend hätte es mich enorm viel gekostet, zugunsten des Klimas auf Kinder zu verzichten. Das ist anders beim Fliegen. Ich kann nicht sagen, dass es wahnsinnig wichtig ist für mich, jedes Jahr in Thailand Ferien zu verbringen. Auf einem Recht zu fliegen kann ich nicht beharren.

Beim Klimawandel wird viel über den Einfluss und die Verantwortung des Individuums gesprochen. Deshalb ist es doch nur konsequent, auch das Kinderkriegen zu thematisieren.
Absolut. In den letzten zehn Jahren haben sich gesellschaftliche Debatten über die persönliche Lebensführung sehr verstärkt. Darf ich noch Fleisch essen oder reisen? Vor hundert Jahren hätte man noch gesagt: Welche Früchte ich zum Frühstück esse, geht niemanden etwas an. Das war vielleicht richtig, als es um unsere Äpfel und Birnen ging. Heute aber betrifft es im Grunde alle, wenn ich täglich eine Papaya aus Südamerika in mein Müesli mische. Das hat Folgen fürs Klima. Wer heute noch behauptet, das Essen sei Privatsache, liegt schlicht falsch. Ähnlich ist es mit der Kinderfrage.

Muss man in Kauf nehmen, dass andere vermehrt über die Art und Weise urteilen, wie man lebt?
Das ist die Konsequenz. Und die ist auch legitim. Wenn wir einen Lebensstil führen, der angesichts des Klimawandels nicht zu rechtfertigen ist, dann müssen wir uns kritischen Fragen stellen. Das ist unangenehm, aber aus moralischer Sicht völlig angemessen.

Wenn Kinder keine private Angelegenheit sind, würden Sie auch gesetzliche Regelungen befürworten?

Nicht notwendigerweise. Keine Privatsache heisst zunächst einmal, dass wir anderen eine Antwort schuldig sind. Ob es Gesetze braucht, ist eine weitere Frage. Man muss sich etwa fragen, was eine gesetzliche Regelung bewirken würde. Kann eine Klimasteuer auf ein drittes Kind dazu beitragen, dass weniger Kinder gezeugt werden? Oder sind es gleich viele Kinder, die dann in prekäreren Situationen leben? Dann würden die Schwächsten der Gesellschaft noch schwächer dastehen. Das ist viel komplexer als die Frage, ob man Fleisch besteuern soll.

Besteht nicht die Gefahr, dass die Diskussion um das Kinderkriegen ausartet und ökofaschistische Züge annimmt?

Je nachdem, wie man sie interpretiert und umsetzt. Wenn wir morgen in der Schweiz eine Ein-Kind-Politik einführen würden, wäre das sicher problematisch. Wenn man aber sagt, wir müssten als Gesellschaft über dieses Problem nachdenken, ist das alles andere als faschistisch oder hysterisch. Es bedeutet schlicht, das Problem des Klimawandels ernst zu nehmen.

Beobachter
Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

Beobachter

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

Ist es nicht unlogisch, wenn man Menschen schützt, indem man die Geburt von Menschen verbieten will?
Auf eine Art ja. Wir sollten das Klima nicht um des Klimas Willen schützen, sondern im Interesse der Menschen – und anderer Tiere. Die Forderung, zugunsten des Klimas auszusterben, wäre in der Tat absurd. Anders ist es bei der Forderung, höchstens zwei Kinder zu haben. Es könnte sein, dass wir irgendwann aussterben, weil die Menschheit weiter wächst wie bisher – und dass wir nur überleben, wenn wir heute auch auf unsere Zahl achten. So betrachtet, kann es sinnvoll sein, zum Wohle der Menschheit weniger Menschen zu zeugen.

Kinder sind die Zukunft der Gesellschaft. Wie soll der Schweizer Sozialstaat seine Leistungen finanzieren, wenn immer weniger Kinder auf die Welt kommen?
Zu gewissen Teilen könnten wir das anderweit abfedern. Die Durchschnittsschweizerin bekommt ja schon heute weniger als zwei Kinder. Unsere Gesellschaft wächst durch Migration. Zuwanderung könnte auch in Zukunft den Sozialstaat mittragen. Aber es ist auch eine offene Frage, ob wir weiterhin denselben Lebensstandard pflegen können oder dürfen. Vielleicht müssen wir hinnehmen, mit etwas weniger Ressourcen auszukommen. Es kostet eben etwas, wenn wir das Klimaproblem lösen wollen.

Migration, etwa aus Afrika, würde das Klimaproblem nicht lösen. Die Menschen dort verursachen ja viel weniger CO2 als die Leute in westlichen Ländern – auch die zugewanderten.
Sie sprechen eine schwierige moralische Frage an. Es ist ein Fortschritt, wenn Menschen in Entwicklungsländern durch Wirtschaftswachstum aus der Armut gehoben werden. Andererseits werden diese Gesellschaften dann mehr CO2 produzieren. Ich weiss keine einfache Lösung. Es wäre aber moralisch sicher falsch, wenn der globale Norden, der ja viel mehr zum Klimawandel beiträgt und voraussichtlich weniger darunter zu leiden hat, seinen CO2-intensiven Lebensstil weiterhin pflegte, aus ökologischen Gründen den Menschen im Süden den Weg aus der Armut erschwert.

Die hohe Geburtenrate in Entwicklungsländern wird also erst relevant fürs Klima, wenn der CO2-Ausstoss durch Wohlstand und Konsum stark ansteigt?
Grundsätzlich ist jede Emission klimarelevant. Aber die hohen Geburtenraten im globalen Süden fallen tatsächlich viel weniger ins Gewicht. Die Pro-Kopf-Emissionen in den USA sind rund 75-mal höher als etwa in Bangladesch. Das Problem liegt also sicher nicht im Süden.

Sind all diese moralischen Fragen irgendwann überflüssig, weil es am Schluss ums pure Überleben geht?
Müssig sind diese Fragen nicht. Wenn wir unseren Lebensstil anpassen, tiefgreifende politische Massnahmen durchsetzen und den technologischen Fortschritt vorantreiben, können wir unseren kollektiven Klimatod wohl unwahrscheinlich machen. Aber wir müssen entschlossen handeln. Das Aussterben von Leben auf der Erde wäre die grösste vorstellbare moralische Katastrophe. Wenn sie unmittelbar bevorsteht, werden drastische Massnahmen notwendig.

Dann schlafen Sie wahrscheinlich nicht so gut?
Nein. Aber nicht, weil mich Panik oder Gewissensbisse plagen. Mein Sohn wacht einfach noch häufig auf.

Stefan Riedener

Stefan Riedener (31) hat in Zürich und Oxford Philosophie studiert. Er lehrt am Ethik-Zentrum der Universität Zürich und ist seit kurzem Vater.

Stefan Riedener (31) hat in Zürich und Oxford Philosophie studiert. Er lehrt am Ethik-Zentrum der Universität Zürich und ist seit kurzem Vater.

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