Wenn man in dieser Woche eines nicht gewesen sein möchte, dann ist es die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. In nur zwei Tagen wurde sie in die Ecke geschossen, verkauft und mit dem Lastwagen überkarrt. Kostproben gefällig?
Mit seinen Entscheiden am Mittwoch hat der Nationalrat – egal, wie man zur SVP-Initiative steht – eine Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative vorgelegt, die nicht weiter vom Verfassungsartikel entfernt sein könnte. Die Befürworter der Lösung haben zwar Recht, wenn sie auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Ja zu Masseneinwanderungs-Initiative und den bilateralen Verträgen hinweisen, zu denen die Bevölkerung mehrmals Ja gesagt hat und deren Einhaltung die Verfassung ebenfalls verlangt.
SVP beging selbst Verfassungsbruch
In einer solchen Ausgangslage muss das Parlament einen gangbaren Weg finden, der die Verfassung in ihrer Gesamtheit respektiert, und hat gewisse Freiheiten. Dennoch schleckt keine Geiss weg, dass der Entscheid, die Bilateralen höher zu gewichten, ein parteipolitisch motivierter ist, den das Volk so nicht in Auftrag gegeben hat. In diesem Sinn ist der Furor der SVP verständlich.
Zu weit aus dem Fenster der Empörung lehnen sollte sich die Partei jedoch nicht. Denn schon einen Tag später hat die SVP selbst Verfassungsbruch begangen. Am Donnerstag stimmte die Fraktion geschlossen einem Vorstoss zu, der Steuersündern bei Selbstanzeige einen Rabatt gewährt. Ebendiese Rabatte auf Nachsteuern hat das Bundesgericht im letzten Jahr als verfassungswidrig beurteilt. Auch SVP-Finanzminister Ueli Maurer wies auf den «grossen Konflikt mit der Verfassung» hin. Würde die SVP Verfassung und Volkswillen wirklich ernst nehmen, hätte sie geschlossen Nein stimmen müssen.
Volkswillen mit Füssen getreten
Doch der Volkswillen kam schon am Mittwochmorgen, also vor der Zuwanderungs-Schlacht, wortwörtlich unter die Räder: als der Nationalrat beschloss, das Nachtfahrverbot für Lastwagen zu verkürzen. Künftig sollen die Brummis nicht erst ab 5 Uhr morgens, sondern schon eine Stunde früher durch die Schweiz donnern dürfen, hatte der Tessiner Nationalrat Fabio Regazzi darin gefordert. Regazzi gehört übrigens der CVP an, die den «Inländervorrang light» ebenfalls als Verfassungsbruch beurteilt.
Wiederum stimmt die SVP dem Vorstoss geschlossen zu – und trat damit den Volkswillen, zu dessen Hüterin sie sich ein paar Stunden später emporgeschwang, mit Füssen. Denn in der SVP-Logik hat das Volk mit seinem Ja zur Alpen- und seinem Nein zur Avanti-Initiative gesagt, dass das Nachtfahrverbot unantastbar ist. Umwelt- und linke Verkehrspolitiker werden das jedenfalls so sehen. Die SVP wird widersprechen und verwedeln.
Mit zweierlei Mass gemessen
Damit sind wir bei des Pudels Kern: Beide Seiten haben Recht. Bundespolitiker wissen genau, dass sie sich beständig im Spannungsfeld zwischen Verfassung und Realpolitik bewegen. Zum Glück ist die Verfassung der Eidgenossenschaft flexibel und kann vieles aushalten. Und auch der Volkswille – so es ihn denn in dieser Eindeutigkeit überhaupt gibt – wird sich immer wieder Gehör verschaffen: in Referenden und Initiativen, die der SVP in der Ausländerpolitik und der Linken in Umwelt- und Steuerfragen offenstehen.
Im Wissen darum sollten die gewählten Volksvertreter öfter erstmal tief durchatmen und kurz nachdenken, ob sie wirklich gleich bei jeder missliebigen Entscheidung eines Erstrats – und das war der Nationalrat in allen drei Fällen – «Verfassungsbruch!» und «Volkswille!» schreien wollen. Und jene, die es dennoch so gern tun, sollten wenigstens bei allen Fragen den gleichen Massstab ansetzen.