Marthe Gosteli ist das Gedächtnis der Schweizer Frauenbewegung. Sie wird heute 99
«Eine Frau ist eine Frau. Ein Mann ist ein Mann.»

Frauen sollen aufhören, männliche Verhaltensmuster zu kopieren, fordert die älteste Schweizer Feministin, Marthe Gosteli (heute 99). Und auch von der Vereinbarkeit von Kind und Karriere hält die Vorreiterin der Schweizer Frauenrechtsbewegung wenig.
Publiziert: 22.12.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 21:00 Uhr
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Kämpfte für die grösste unblutige Revolution des letzten Jahrhunderts: Frauenrechtlerin Marthe Gosteli.
Foto: Monika Flückiger
Cinzia Venafro

«Was?!» Marthe Gosteli reisst die Augen hinter den Brillengläsern weit auf. «Der BLICK schickt zwei Frauen – ja, dass ich das noch erleben darf!» Die Grande Dame der Schweizer Frauenrechtsbewegung empfängt Fotografin und Journalistin in ihrem herrschaftlichen Haus in Worblaufen BE. Hier ist die Bauerntochter in gutbürgerliche Verhältnisse hineingeboren worden. Hier lebt sie seither, und hier stapelt sich ihr Lebenswerk, das historische Gedächtnis der Schweizer Frauen. Marthe Gosteli ist seine Chronistin. «Die Frauenbewegung war die grösste unblutige Revolution des letzten Jahrhunderts», sagt die Frau mit der Hermelinmütze. «Jetzt muss sie endlich den Weg in die Geschichtsbücher finden!»

Die Amerikaner haben die Frauen anständig bezahlt

Marthe Gosteli kämpft an vorderster Front bei dieser Revolution. Sie tritt Mitte der Fünfzigerjahre dem Berner Frauenstimmrechtsverein bei – Mutter Gosteli war bereits in den 1920er-Jahren Mitglied – und präsidiert später die «Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände», die das Frauenstimmrecht mit dem Bundesrat verhandelt. Emanzipiert wurde Gosteli auch in der US-Botschaft, wo sie kurz nach dem Krieg die Filmabteilung des Informationsdienstes leitete. «Die Amerikaner haben Frauen im Gegensatz zu den Schweizern gut bezahlt», sagt sie. «Und einen Revoluzzercharakter hatte schon meine Mutter. Vater hat sich der Frau angepasst. Er war ein kluger Mann.»

Bewusst auf Familie verzichtet 

Einen eigenen Ehemann an ihrer Seite hat sich Marthe Gosteli aber nie gewünscht. «Wenn ihr Pionierarbeit leisten wollt, dann müsst ihr in die Hosen. Schaffe, schaffe, schaffe», sagt sie. So habe sie bewusst auf Ehe und Kinder verzichtet. «Hätte ich geheiratet, hätte ich niemals mit diesem Einsatz für die Frauen kämpfen können.» Mit leichtem Unbehagen beobachtet die bürgerliche Dame die «heutigen Frauen, die einfach alles wollen. Ich weiss schon, die Welt ist heute eine andere. Aber Kind, Karriere und auch noch persönliche Erfüllung.» Man könne nicht alles haben im Leben. «Das geht doch nicht!» 

Generationengespräch: Marthe Gosteli mit Journalistin Cinzia Venafro.
Foto: MONIKA FLUECKIGER

Der Fehler der heutigen Feministinnen

Und wie blickt die Vorkämpferin für die Gleichberechtigung auf die aktuelle Genderdiskussion? «Die heutigen Feministinnen machen einen Denkfehler», sagt Marthe Gosteli. «Denn eine Frau ist eine Frau. Ein Mann ist ein Mann. Gleichberechtigung heisst nicht Gleichstellung.» Es sei falsch, wenn Frauen nur erfolgreich seien, wenn sie männliche Verhaltensmuster kopierten. Gosteli überlegt und sagt dann: «Alle wichtigen Werte waren halt über Jahrhunderte männlich. Das zu beseitigen, ist eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Generation.»

Heute feiert die Vorreitern ihren 99. Geburtstag. «Ach, das ist doch Chabis – ich bin ja noch nicht 100», sagt sie schelmisch.
Foto: MONIKA FLUECKIGER

Marthe Gosteli ruft aus dem Nebenzimmer Silvia Bühler (38) herbei, sie soll die Nummer von Elisabeth Kopp heraussuchen, Gosteli will der ersten Bundesrätin zum Geburtstag gratulieren. Dann nimmt Gosteli die Hand von Silvia Bühler und sagt stolz: «Ich habe eine wundervolle Nachfolgerin, sie ist eine grosse Nummer im Staatsarchiv.» Vor gut drei Jahren übernahm die Kulturmanagerin Gostelis Arbeit, bis dahin hatte die rüstige Rentnerin das dreistöckige Archiv selbst betreut.

Täglich ein Gläschen Rosé

Ihr Gesundheitsgeheimnis? Seit jeher trinkt die Bernerin ein Gläschen Rosé zum Zmittag. (Besteht auch vehement darauf, dass die Fotografin und die Journalistin mit ihr diese Tradition zelebrieren.) Bis in ihr 72. Lebensjahr ritt sie mit ihrem Pferd aus, «darum habe ich bis heute einen so geraden Rücken», sagt sie. «Und stellen Sie sich vor, ich bin noch gut im Oberstübli! Man muss sich eben wehren, wehren, wehren!»

Der Harte Kampf für das Frauenstimmrecht

Wir waren die letzten – weit nach Italien (1945), den USA (1920), der Türkei (1934) und der Sowjetunion (1919): Am 7. Februar 1971 nehmen die Stimmbürger das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht für Frauen mit 621'109 (66%) Ja zu 323'882 (34%) Nein bei einer Stimmbeteiligung von 58% deutlich an. Vorausgegangen war ein emotionaler Abstimmungskampf: «Die Mutter treibt Politik», skandierten etwa die Gegner und zeichneten ein Bild vernachlässigter, am Boden liegenden Babys. «Wollt Ihr solche Frauen», fragten sie und zeigten hexenhafte und gierige Gestalten. Die Intelligenz der Frau reiche nicht fürs Politisieren, hiess es bei polternden Herren. «Auf so dumme Aussagen hin bin ich jeweils nicht einmal mehr eingegangen», kommentiert die Frauenrechtlerin Marthe Gosteli.

Wir waren die letzten – weit nach Italien (1945), den USA (1920), der Türkei (1934) und der Sowjetunion (1919): Am 7. Februar 1971 nehmen die Stimmbürger das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht für Frauen mit 621'109 (66%) Ja zu 323'882 (34%) Nein bei einer Stimmbeteiligung von 58% deutlich an. Vorausgegangen war ein emotionaler Abstimmungskampf: «Die Mutter treibt Politik», skandierten etwa die Gegner und zeichneten ein Bild vernachlässigter, am Boden liegenden Babys. «Wollt Ihr solche Frauen», fragten sie und zeigten hexenhafte und gierige Gestalten. Die Intelligenz der Frau reiche nicht fürs Politisieren, hiess es bei polternden Herren. «Auf so dumme Aussagen hin bin ich jeweils nicht einmal mehr eingegangen», kommentiert die Frauenrechtlerin Marthe Gosteli.

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