Lohndpumping: Schweizer Löhne unter Druck
11.17 Franken pro Stunde

Die Auseinandersetzung um das Rahmenabkommen mit der EU nimmt an Schärfe zu. Nun zeigt ein krasser Fall im Kanton Bern, wie manche ausländische Firmen Gehälter unterbieten.
Publiziert: 11.03.2019 um 12:46 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2019 um 19:45 Uhr
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Die Arbeitsmarktkontrolle stellt grobe Verstösse fest.
Foto: Keystone
Simon Marti
Simon MartiRedaktor SonntagsBlick

Der FDP-Schwenk in der Europapolitik hat Bundesbern in Schwingungen versetzt. Seit die freisinnige Bundeshausfraktion offensiv für das vorliegende Rahmenabkommen mit der Europäischen Union eintritt – und damit von der Linie der Parteiführung abweicht –, sind auch festgefahrene Positionen ins Rutschen geraten.

Vor allem die Sozialdemokraten rotieren. Der lange schwelende Konflikt zwischen dem SP-Gewerkschaftsflügel, der einen Rahmenvertrag mit eigenständigem Lohnschutz verlangt, und dem liberalen Flügel der Partei, der dem vorliegenden Vertragstext positiv gegenübersteht, ist ausgebrochen.

Diese Woche kam es zu einem vagen Schlichtungsversuch: Die Fraktion verkündete ein «Ja zu Europa» und ein «Ja zum Lohnschutz». Darunter kann sich nun jeder SPler vorstellen, was er will. Einmal mehr steht die künftige Ausgestaltung des Lohnschutzes im Zentrum der Debatte: Allein im vergangenen Jahr wurden 3600 ausländische Firmen wegen Verstössen gegen das Entsendegesetz sanktioniert. Wie stark die Löhne unter Druck stehen, zeigt exemplarisch ein Fall aus dem Berner Jura. Dort stand Anfang 2018 die Revision eines grossen Betonwerks an. Mehr als 90 Büezer reisten für diverse Arbeiten aus dem Ausland an, Beschäftigte von Firmen aus Polen, Ungarn, Portugal, Frankreich und Österreich.

Keine Spesen, Reisezeiten und Mindestlöhne

Als die Arbeitsmarktkon­trolle des Kantons Bern, unterstützt vom jurassischen Werk, die entsandten Angestellten im Rahmen einer Grosskontrolle überprüfte, förderte sie eine lange Reihe von dramatischen Verstössen zutage. Die Liste der Beanstandungen liegt SonntagsBlick vor. Sie zeigt: Auch in qualifizierteren Berufen werden Schweizer Löhne knallhart unterboten.

Polnische Polymechaniker etwa erhielten keine Spesen, ihre Reisezeiten wurden nicht als Arbeitszeiten angerechnet, wie in dem Rapport zu lesen ist. Zwei Ungarn, die für Schweiss- und Schlosserarbeiten in den Jura geholt wurden, erging es genauso.
Auch Unterschreitungen der geltenden Mindestlöhne wurden festgestellt: ­Einem 29-jährigen französischen Metallbauer zahlte der Arbeitgeber JTM aus Vallerois-Lorioz einen Stundenlohn von umgerechnet 11.17 Franken. Gemäss dem für diese Branche geltenden Gesamtarbeitsvertrag (GAV) liegt der Mindestlohn bei 23.55 Franken!

Ungarische Metallbauer gaben den Kontrolleuren an, 26 Euro pro Stunde zu verdienen. Allerdings veranschlagte ein sichergestellter Arbeitsvertrag den Monatslohn mit lediglich 138'000 ungarischen Forint. «Dies ergibt umgerechnet ca. 517 Franken» , hält der Rapport fest.

In diesem Stil geht es weiter, Seite für Seite. Polnische Polymechaniker arbeiteten für 21 Franken pro Stunde. Gemäss Gesamtarbeitsvertrag verbindlich vorgeschrieben wären knapp 30 Franken. Ein französischer Bau-Facharbeiter, 37 Jahre alt, gab zu Protokoll, 2200 Euro monatlich zu verdienen. Das entspricht rund 2600 Franken. Der GAV schreibt 5058 Franken vor.

Nicht nur das Baugewerbe betroffen

Der Gewerkschafter Corrado Pardini (53), SP-Na­tionalrat aus dem Kanton Bern, ist alarmiert. «Der Fall zeigt exemplarisch, wie in der Schweiz Löhne gedrückt werden und wie gewaltig die Dimension des Lohndumpings ohne Arbeitsmarktkontrolle wäre.» Seit 30 Jahren begleitet Pardini die Entwicklung auf dem hiesigen Arbeitsmarkt und die Kontrollen von Gewerkschaften und Arbeitgebern, die Missbräuchen einen Riegel schieben sollen: «Längst ist nicht nur das Baugewerbe betroffen, sondern auch der Kern, das Herzstück unseres Wohlstandes: das Gewerbe und die Industrie.»

Ausländische Firmen machten Schweizer Betrieben mit unlauteren Mitteln Konkurrenz. Die Vorgänge im Berner Jura nimmt Pardini zum Anlass für eine fundamentale Kritik am vorliegenden Rahmenabkommen: «Wenn wir dazu blind Ja sagen, wie dies die FDP möchte, dann gute Nacht!» Dem Freisinn sei der Lohnschutz offenbar grundsätzlich ein Dorn im Auge.

Der Vertragstext eines Rahmenabkommens mit der Europäischen Union mache es künftig nicht nur schwieriger, solche Fälle zu entdecken, sondern verschärfe das Problem zusätzlich, ist Pardini überzeugt. Es sei fraglich, ob fehlbaren Firmen in Zukunft der Zutritt zum Schweizer Markt verweigert werden dürfe: «Wenn ich aber eine Radarfalle aufstelle, die Fahrer aber nicht gebüsst werden, dann hält sich auch kaum einer ans Tempolimit.»

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