Locarno Filmfestival-Chef Marco Solari
«Die Bilateralen wirkten im Tessin wie ein Tsunami»

Die Tessiner sind Opfer der für die Schweiz so wichtigen, unverzichtbaren bilateralen Verträge: Die Tessiner fühlen sich unverstanden und leiden unter den Auswirkungen der Verträge.
Publiziert: 05.08.2015 um 17:15 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 03:02 Uhr
Marco Solari (69) ist Präsident des Internationalen Filmfestivals in Locarno.
Foto: Igor Kravarik

Wird das Tessin zum Indianerreservat? Zu jeder Wahl wirft die erfolgreiche Lega dei Ticinesi die Frage auf: Wollen wir enden, wie die Indianer endeten? Ein populistischer Satz, zweifellos. Doch wie viel Wahrheit steckt in ihm? Das Tessin hat tatsächlich Mühe. Mit sich selbst. Und den anderen. Seit geraumer Zeit.

Das Tessin war ein durch die Landvögte ausgebeuteter Landstrich südlich der Alpen, der von Napoleon befreit und dank ihm «libero e svizzero» wurde. Ein unbeliebter Kanton war er zu Beginn, weil er mit norditalienischen Revoluzzern sympathisierte. Niemand unterstützte den von Hungersnöten geplagten Kanton. Die Männer emigrierten nach Amerika oder Australien. «In diesen elendiglichen Hütten würde keine Deutschschweizer Sau leben wollen»: Der Berner Patrizier Karl-Viktor von Bonstetten formulierte diesen realistischen Satz nach dem Besuch im heute so romantischen Verzascatal. Bis ins 19. Jahrhundert war dort nur Armut, Not, Verzweiflung. Etwas zwiespältige Hoffnung bedeutete die Gotthardbahn: Sie brachte Touristen; diese prägten das für Tessiner demütigende Bild mit Boccalini und Zoccoli.

Diese Unfähigkeit des Tessins, sich kulturell zu behaupten, ist eine historische Konstante und strahlt in alle Landesteile aus. Für die Romands sind wir im Grunde uninteressant. Zu weit weg, zu italienisch und Konkurrenten um politische Ämter. Mit Ausnahme des Filmfestivals Locarno: Warum sollten sie sich mit uns abgeben? Den Deutschschweizern sind wir – lasst uns auch hier ehrlich sein – immer wieder etwas suspekt. Der Tourismus förderte während Jahrzehnten das Bild des lustigen Tessiners. In den Weltkriegen besang man die «Ticinesi bravi soldati», was durchaus der Realität entsprach, denn Tessiner waren und sind pflichtbewusste Wehrmänner. In der Deutschschweiz erzählt man sich über die Tessiner Wehrtüchtigkeit jedoch ganz andere, wahre oder unwahre Geschichten. Etwa jene vom 1.-Weltkriegs-General Ulrich Wille: Am Entlassungstag beschimpfte dieser auf der Zürcher Allmend die Tessiner Truppen, weil sie angeblich auf der Bahnhofstrasse «ehrliche Deutschschweizer Fräuleins inopportuniert» hätten. Stets blieb das Verhältnis des Tessins zum unmittelbaren geografischen Umfeld schwierig. Und heute?

Sagen wir es ungeschminkt: Das Tessin ist Opfer der für die Schweiz so wichtigen, ja unverzichtbaren bilateralen Verträge. Aber wir Tessiner fühlen uns unverstanden, leiden unter den Auswirkungen der Verträge. Unser Kanton grenzt an einen der bedeutendsten urbanen Räume in Europa. Acht Millionen Menschen wohnen dort; das Lohngefälle zum Tessin beträgt im Schnitt 1 zu 4! Die bilateralen Verträge und das Prinzip der offenen Grenzen wirkten im Tessin wie ein Tsunami. Plakativ ausgedrückt: Wir haben unsere Arbeitsplätze an die billiger entlöhnten Italiener abtreten müssen. Die unkontrollierten Grenzübergänge haben die Kriminalität drastisch erhöht. Relativierende Statistiken haben keine Chance. Das Gefühl ist nun einmal so – vermutlich auch, weil seit 1999 kein Tessiner Bundesrat seinen Landsleuten Zusammenhänge erklärt. Das weckt Misstrauen und Ablehnung, gerade auch gegenüber Italien. Aber auch eine Abstimmung, die für stärkeren Dialog mit unseren nördlichen Nachbarn eintreten würde, hätte im Tessin keine Chance. Dies führt zu Ressentiments gegenüber Bern. Zu Recht oder Unrecht herrscht das Gefühl vor, der Bund stelle sich taub für die Sorgen des Tessins.

Und nun? Die politischen Parteien im Tessin sind alle, ausnahmslos alle, in Schwierigkeiten. Niemand hat Lösungen. Auch die regierende Lega nicht. Schutzlos waren wir während der letzten Jahre zudem der TV-Berieselung der Berlusconi-Sender ausgesetzt. Wo also findet sich die Zukunft des Tessins? Der Schlüssel liegt in der Ausbildung der Menschen vor Ort. Wir haben die ausgezeichnete Università della Svizzera Italiana, Fachhochschulen von Rang oder das in der zukunftsträchtigen Biotechnologie tätige Istituto di ricerca in Biomedicina in Bellinzona. Wir müssen unsere geografische Lage nutzen und das internationale Logistiknetz weiter ausbauen. Unser Kanton ist kulturell vielfältig und verfügt über einen qualitativ hochstehenden Tourismus. Auf diese Karten muss das Tessin konsequent setzen. Das Filmfestival Locarno, das von der Deutschschweizer Wirtschaft grosszügig mitfinanziert und von Bern politisch aufmerksam begleitet wird, beweist, wie nützlich eine kulturelle Veranstaltung für eine Region sein kann. Das Festival stärkt unseren Kanton wirtschaftlich wie politisch und schlägt kulturelle Brücken über den Gotthard und gen Süden. Das Filmfestival zeigt auch dieses Jahr Werke aus der Deutschschweiz, aus der Romandie und aus Italien, der Heimat des Ehrengastes Marco Bellocchio. Vergessen wir auch nicht die Wiederentdeckung des Monte Verità mit seinem international beachteten jungen Literaturfestival. Oder das neue Kulturzentrum LAC, das im September in Lugano eröffnet wird und das Potenzial hat, ein kultureller Leuchtturm für Norditalien zu werden.

All das sind Zeichen, dass sich das Tessin Richtung Moderne bewegt. Die Jugend ist anders als die Generation, die langsam abtritt. Sie spricht viele Sprachen, denkt und handelt global. Sie weiss, dass ihr nichts geschenkt wird. Sie ist bereit, zu kämpfen. Diese neue Generation der italienischen Schweiz inklusive der oft vernachlässigten Italienisch-Bündner ist Teil der zukünftigen «Stadt Schweiz». Sie wohnt im südlichen Quartier, das kein Indianerreservat sein wird. Ich bin überzeugt: Diese Generation wird sich durchsetzen!

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