Heute hat der Bundesrat beschlossen, wie es in den Beziehungen zu Brüssel in Zukunft weitergehen soll. Doch das Dossier liegt seit Jahren auf dem Tisch – und ist mittlerweile ein tonnenschwerer Papierstapel. Für alle, die die Übersicht verloren haben, macht BLICK die Auslegeordnung im EU-Poker:
Wer sitzt am Tisch?
Der Bundesrat: Er will den bilateralen Weg weitergehen und neue Abkommen schliessen, die unserer Wirtschaft den Zugang zum EU-Markt erleichtern. Er hat zugestimmt, ein Rahmenabkommen zu verhandeln. Das – geheime – Mandat wurde im Mai 2014 verabschiedet.
Die EU: Es war Brüssel, das ein Rahmenabkommen verlangt hat. Es hat genug von der «Rosinenpickerei» der Schweiz und fordert: Wenn ihr neue Abkommen wollt, dann müssen wir sicherstellen, dass ihr Änderungen des EU-Rechts in den bislang 120 Verträgen mit übernehmt. Es soll nicht bei jedem Abkommen nachverhandelt werden, sondern das soll automatisch passieren.
Worum wird gepokert?
Um das Rahmenabkommen: Das Rahmenabkommen soll die 120 bilateralen Verträge in einen Rahmen einbetten. Dieser regelt:
- Wie Abkommen angepasst werden, wenn sich das EU-Recht entwickelt.
- Wer überwacht, dass beide Seiten die Abkommen richtig anwenden.
- Wie wird sichergestellt, dass beide Seiten die Abkommen gleich auslegen.
- Wer richtet, wenn es Streit über diese Fragen gibt.
Umstritten ist vor allem der letzte Punkt. In der Schweiz will man nicht, dass EU-Richter, also «fremde Richter» Streitfragen entscheiden. Doch dem Vernehmen nach hat man sich auf eine Lösung geeinigt, mit der die EU leben kann, und von der der Bundesrat überzeugt ist, die Schweizer Stimmbürger überzeugen zu können.
Worüber wird nicht verhandelt?
Der Bundesrat hat rote Linien für die Verhandlungen definiert. Das sind sie:
- Die Schweiz wird die EU-Bürgerschaftsrichtlinie nicht übernehmen. Diese würde EU-Bürgern ein Niederlassungsrecht in der Schweiz und damit uneingeschränkten Zugang zur Sozialhilfe geben.
- Auch über die flankierenden Massnahmen – den Schutz der hohen Schweizer Löhne – verhandelt die Schweiz nicht. Das hatte der Bundesrat im Sommer nochmals bestätigt, nachdem Aussenminister Ignazio Cassis (57) mit der Idee, sie doch als Verhandlungsmasse einzubringen, vorgeprescht war.
Warum ist das Rahmenabkommen so wichtig?
Weil es ohne dieses keine neuen Verträge gibt, die Schweizer Unternehmen Zugang zum EU-Markt geben. Darauf drängt vor allem der Finanzplatz. Bis heute müssen unsere Banken, Versicherungen und Vermögensverwalter eine Filiale in der EU haben, wenn sie mit dortigen Kundengeschäften wollen. Diese Hürde würde wegfallen.
Was ist der Einsatz?
Die Ostmilliarde: Über diesen zugesagten Beitrag an die Entwicklung der EU-Ost- und -Südländer will der Bundesrat nochmals nachdenken. Dabei ist der Betrag von 1,3 Milliarden Franken mit dem Osthilfegesetz beschlossene Sache. Die Landesregierung betreibt Gesichtswahrungspolitik, weil die EU die Schweiz zweimal mit einem «Unterzug» brüskiert hat.
Die Wirtschaft: Sie profitiert vom bilateralen Weg, der ihr Zugang zum EU-Binnenmarkt bringt. Die Bilateralen gehen weit über ein Freihandelsabkommen hinaus und haben die EU zur wichtigsten Wirtschaftspartnerin der Schweiz gemacht: Heute gehen rund 54 Prozent unserer Exporte dorthin, und knapp 72 Prozent der Importe stammen von ihr.
Was sagen die Schweizer Parteien dazu?
SVP: SVP-Übervater Christoph Blocher (77) kämpft gegen das Rahmenabkommen. Ein «Kolonialvertrag» sei dieses, mit dem die Schweiz zum Vasall Brüssels werde. Sie müsste EU-Recht übernehmen, ob sie will oder nicht. Diese Woche hat die Bundeskanzlei bekannt gegeben, dass die SVP-Begrenzungsinitiative zustande gekommen ist. Bei einem Ja zu dieser wären die Personenfreizügigkeit und die Verträge der Bilateralen I zu kündigen.
FDP: Die Freisinnigen wollen den bilateralen Weg weitergehen, um neue EU-Verträge abzuschliessen. Wie Präsidentin Petra Gössi (42) stets betont, soll man sich Zeit lassen. Qualität ginge vor Tempo.
CVP: Die abtretende Bundesrätin Doris Leuthard (55) erinnert gerne daran, der Bundesrat wolle das Rahmenabkommen bis Ende Jahr abschliessen. Doch auch Parteipräsident Gerhard Pfister (55) betont, eine gute Lösung sei wichtiger als eine schnelle.
SP: Eigentlich wollen alle näher an die EU. Trotzdem liegen die Sozialdemokraten miteinander im Clinch. Denn Brüssel verlangt, dass die flankieren Massnahmen – vor allem der Schutz der hohen Schweizer Löhne – angepasst und ins Rahmenabkommen aufgenommen werden. Das passt den Gewerkschaftsflügel gar nicht. Auf Gespräche darüber trat Gewerkschaftsboss und SP-Ständerat Paul Rechsteiner (65) gar nicht erst ein. Interessanterweise hat er Flankenschutz aus der Wirtschaft erhalten: Auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind dagegen, die «Flankierenden» zum Bestandteil des Rahmenabkommens zu machen.
Wer ist ein Störfaktor?
Der Brexit: Die Briten haben am 23. Juni 2016 den EU-Austritt beschlossen. Seither streiten London und Brüssel über die Scheidungsmodalitäten. Klar ist: Am 29. März 2019 soll die Trennung perfekt sein. Der Krach zeigt: Wer der EU die kalte Schulter zeigt, kann sich nicht einfach mit ihr ins warme Binnenmarkt-Bett legen. Während viele in Bern davon ausgingen, der Brexit bringe uns Vorteile, zeichnet sich ab: Die verschmähte Dame EU ist zickig. UK-Premier Theresa May (61) wurde an den Katzentisch verbannt. Heisst für Bern: Einen besseren Deal als die Briten wird die Schweiz nach 2019 nicht bekommen.
Als neue Deadline für den Abschluss des Rahmenabkommens soll daher der 15. Oktober gelten. Denn am 18. Oktober findet der grosse Brexit-Gipfel statt. Und dann will die EU den Briten mit dem Schweizer Abkommen eine Blaupause präsentieren.