«Ich will den Opfern eine Stimme geben»
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Das treibt Richter Wäspi an:«Ich will den Opfern eine Stimme geben»

Libanon, Kongo, Gaza – Richter Stefan Wäspi sorgt für Gerechtigkeit
Er ist Kriegsverbrechern auf der Spur

Jugoslawien, Libanon, Kongo, Gaza: Stefan Wäspi (62) hat bereits rund um den Globus für mehr Gerechtigkeit gesorgt. Und in Zentralafrika konnte er jüngst einen wichtigen Erfolg verbuchen.
Publiziert: 02.01.2022 um 19:29 Uhr
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Aktualisiert: 02.01.2022 um 19:32 Uhr
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Seit 25 Jahren ist Stefan Wäspi in der internationalen Strafjustiz tätig.
Foto: Siggi Bucher
Valentin Rubin

Ihn kann nichts aus der Ruhe bringen. Stefan Wäspi (62) war in den 90er-Jahren bei der Öffnung von Massengräbern in Bosnien dabei. Er arbeitete am internationalen Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag (Niederlande). Er dokumentierte Menschenrechtsverletzungen in Israel und in Gaza. Ebenso im Kongo. Und seit genau einem Jahr ist er Richter am Special Criminal Court in der Zentralafrikanischen Republik.

SonntagsBlick trifft Wäspi bei seinem Heimaturlaub in Zürich. «Ich will gegen Straflosigkeit ankämpfen», sagt er. «Es kann nicht sein, dass Kriegsverbrecher, die hundert Menschen getötet haben, weiter frei rumlaufen.» Gegenüber Opfern spüre er stets den Drang, zu helfen. «Da kommt bei mir sogleich die Frage: Wie kann ich das beweisen? Wo soll ich ansetzen?» Er nennt das: professionelle Neugier.

Zuerst Wirtschaftsanwalt

Dabei hätte es auch anders kommen können. Bis im Sommer 1996 arbeitete er als Wirtschaftsanwalt in Zürich. Dann bewarb er sich am Jugoslawien-Tribunal in Den Haag. «Die Stelle war befristet auf sechs Monate. Und ich fand es extrem spannend», sagt er. Deshalb blieb er letztlich 15 Jahre.

Wäspi hatte mit Opfern und Tätern aller Seiten zu tun: Bosniaken, Serben, Kroaten, Kosovaren. «So bin ich unvoreingenommen geblieben», meint er. Ausserdem arbeitete er jahrelang mit der damaligen Chefanklägerin in Den Haag zusammen, der Tessinerin Carla Del Ponte (74). Diese sagt heute: «Unsere Zusammenarbeit war immer sehr gut. Zudem war ich stolz und fand es schön, dass auch er Schweizer war.» Und weiter: «Für die Arbeit am Straftribunal musste man viel Durchhaltevermögen haben.»

Kampf für Menschenrechte

Das hat Wäspi. «Viele Kollegen haben in Den Haag nach kurzer Zeit aufgehört. Ich hatte anfangs auch Mühe, vor allem mit Opfern sexueller Gewalt.» Er habe sich zwar nie daran gewöhnt, aber gelernt, damit umzugehen. Seit 25 Jahren macht er kaum anderes, als Kriegsverbrecher vor Gericht zu ziehen und für die Einhaltung von Menschenrechten zu kämpfen.

«Ich habe immer viel gearbeitet», sagt er. Das sei nie ein Problem gewesen, aber: «Letztlich weiss ich nicht, was über die Jahrzehnte auf mich eingewirkt hat.» Richtig abgeschaltet habe er noch nie. Aber: Als Ausgleich spielt er seit Jahren Fussball, am liebsten als Mittelstürmer. Und auch klassische Musik, speziell das Geigenspiel, verschafft Ablenkung. Ablenkung von Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Kriegsverbrechen und Völkermord – den schlimmsten Verbrechen, die Menschen begehen.

Oft Schreibtischtäter im Hintergrund

Auf die Frage, warum Menschen zu solchen Taten fähig sind, zögert er. «Soldaten, die Zivilisten umbringen, handeln oft auf Anweisung. Schreibtischtäter im Hintergrund sind entscheidend. Sie haben die Macht.» Soldaten, die Befehle ausführen, seien zwar auch schuldig. «Aber es gibt Wege, wie man normale Menschen zu unglaublichen Taten bringen kann.» Durch geschickte Arbeitsteilung etwa. Oder mittels Alkohol.

Ausserdem ist Wäspi überzeugt: «Die Uniform ist wichtig. Gerade in instabilen Ländern gibt sie Menschen das Gefühl, alles sei erlaubt.» Als Lizenz zum Töten. «Aber die Hauptschuld tragen die Chefs», sagt Wäspi. Genau die Kriegsverbrecher also, die in Den Haag vor Gericht standen und mit denen Wäspi zu tun hatte. «Man versucht, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen.» Sonst sei es schwer, mit ihnen zu reden. «Oft sind sie nett und geben sich unschuldig – auch wenn das nicht mit ihren Verbrechen zusammenpasst.»

Wäspi macht seinen Beruf gerne

Eine Begegnung mit dem später wegen Beteiligung am Völkermord von Srebrenica verurteilten Dragan Obrenovic ist ihm speziell in Erinnerung geblieben. Als einer von nur ganz wenigen gab er zwar letztlich seine Schuld zu. Und doch: «Während eines Gefängnisbesuchs hat er meinem Ermittler und mir angesparte Schokolade und Kaffee angeboten. Ausgerechnet uns, die wir Beweise gegen ihn sammelten.»

An wie vielen Untersuchungen und Prozessen Wäspi beteiligt war, weiss er nicht genau. «Ich mache meinen Job einfach gern.» Darum hat er sich auch nochmals entschieden, im Januar 2021 als Richter nach Zentralafrika zu gehen. Da es sich um eine sogenannte Non-Family-Mission, finanziert durch das Aussendepartement EDA, handelt, ist seine Frau in Split (Kroatien) geblieben, wo sie ihren Wohnsitz haben.

Neue Herausforderung: Zentralafrika

«Eines Tages sass ich dort am Strand und habe älteren Männern beim Boccia zugeschaut. Aber irgendwie war das langweilig.» Die Herausforderung, im vom Bürgerkrieg zerrütteten und kaum regierbaren Zentralafrika nochmals als Richter zu arbeiten, sei verlockend gewesen. Noch dazu, weil es sich um ein hybrides Gericht handelt – ein Gericht sowohl aus zentralafrikanischen als auch aus internationalen Richtern.

Wäspis dortiger Bewegungsradius ist begrenzt. «Wir werden überallhin begleitet und bewacht. Und bewegen uns fast nur in einem abgesicherten Viertel der Hauptstadt Bangui.» Immerhin: Mit den Soldaten, die ihn bewachen, kann er ab und an Fussball spielen. Das sei nicht nur Ablenkung, sondern schaffe Vertrauen untereinander.

Voller Hoffnung

Angst, dass ihm etwas passiert, hat Wäspi nicht. «Ich habe schon viel gesehen und gefährliche Momente erlebt. Das gehört zum Beruf.» Vielmehr hat er Hoffnungen: «Wenn wir erfolgreiche Prozesse führen und Urteile aussprechen, wäre bereits viel erreicht.» Und tatsächlich: Erst Ende Dezember wurde in Bangui verkündet, dass demnächst der erste Fall eines Kriegsverbrechers vor Gericht gebracht wird. Ein wichtiger Schritt gegen die Straflosigkeit. Und ein abschreckendes Beispiel, dass schlimme Verbrechen nicht folgenlos bleiben, findet auch Wäspi. «Denn der Rechtsstaat ist eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Zivilisation.»

Wäspis Mandat geht dieser Tage eigentlich zu Ende. Wahrscheinlich aber wird er verlängern. «Um die Sache gut einer Nachfolgerin zu übergeben.» Was danach kommt, weiss er noch nicht. Eine Angelegenheit liegt ihm aber am Herzen: Syrien. «Ich bin überzeugt, dass irgendwann auch dort ein internationales Gericht eingesetzt wird.» Diese Arbeit würde Stefan Wäspi reizen: «Wenn ich dann noch nicht zu alt bin und schon angefangen habe, Boccia zu spielen, würde ich nochmals mitmachen.»

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