Russland besitzt in der Schweiz sehr viele Diplomaten. Nicht alle sind jedoch nur zur Pflege internationaler Beziehungen da. Zwei flogen in den vergangenen Wochen als getarnte Agenten auf: Sie wollten das ABC-Labor in Spiez BE auskundschaften und dessen Computer hacken. Sie spionierten zudem am Europasitz der Welt-Anti-Doping-Agentur in Lausanne.
Beides ist aussenpolitisch brisant: Im Berner Oberland werten Schweizer Atom-, Bio- und Chemiewaffen-Experten Proben aus dem Giftanschlag auf den russischen Doppelagenten Sergei Skripal in England aus. Und am Genfersee finden regelmässig vertrauliche Sitzungen zum russischen Staatsdoping statt.
Bundesrat hat russischen Botschafter zitiert
Jetzt schreibt die «SonntagsZeitung», dass jeder vierte russische Diplomat in der Schweiz ein Agent sei. Die Zahl soll aus einer unter Verschluss gehaltenen Auswertung des Nachrichtendienstes des Bundes stammen, der mittlerweile einen «Schwerpunkt Russland» ausgerufen hat.
Der Bundesrat soll über die getarnten Spione im Bild sein und vor Russen warnen, wenn er in seinem neuesten Sicherheitsbericht vom März von einer «erheblichen Zahl von Nachrichtendienstoffizieren unter diplomatischer Tarnung in der Schweiz» schreibt.
Weiter soll das Aussendepartement den russischen Botschafter in Bern zu sich berufen haben, als der Spionageangriff auf das bundeseigene ABC-Labor aufflog. Russland wurde aufgefordert, «sofort seine Spionageaktivitäten auf Schweizer Territorium zu stoppen».
International vernetzte Schweiz zieht Geheimdienste an
Aussenpolitiker in der Schweiz mahnen jedoch zur Ruhe. «Dass in der international vernetzten Schweiz so viele Geheimdienstler tätig sind, ist leider völlig normal und mit Sicherheit keine russische Spezialität», sagt SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer (70). Geheimdienste agierten immer im Graubereich.
Die Co-Präsidentin der Parlamentarischen Gruppe Schweiz-Russland meint es denn auch generell, wenn sie sagt: «Die Schweiz darf nicht alles tolerieren und muss auf diplomatischer Ebene Abklärungen vornehmen.» Die Erwartungen steckt die Baselbieterin aber nicht allzu hoch: «Auch die Schweiz hat ihre Geheimdienstler nicht im Griff, wie das Beispiel ihres Spions in Deutschland zeigte.»
Ebenfalls «keine Überraschung» sind die vielen russischen Spione für Elisabeth Schneider-Schneiter (54, BL), Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates. In der Schweiz tummelten sich Agenten aus der ganzen Welt, relativiert die CVP-Nationalrätin. «Das gegenseitige Ausspionieren ist nicht zu verhindern und nimmt in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung sogar zu.»
Schneider-Schneiter hält es aber für richtig, wenn der Bundesrat sich der Gefahren bewusst ist und sich bei internationalen Organisationen dafür einsetzt, dass das Thema Spionage auf die globale Agenda kommt. National könne das Problem nicht gelöst werden.