Keine Prognosen, keine Prophezeiungen! Wer heute denkt, etwas über das kommende Jahr zu wissen, wacht morgen als Hochstapler auf. So viel ist sicher. Alles andere nicht.
Die Zukunft ist eine wilde Häsin, die eigenwillig ihre Haken schlägt. Trotzdem habe ich bis vor kurzem gemeint, ihren Lauf vielleicht doch ein bisschen voraussehen zu können. Manchmal trafs ja zu, das konnte kein Zufall sein.
Selbst wer in Tarot-Karten nur bedrucktes Papier sieht und in Horoskopen bestenfalls Kurzpoesie: Auch der gegenwärtigste Realist ist nicht gefeit vor der Versuchung, mehr wissen zu wollen, als er wissen kann. Abgrundtiefe Ahnungslosigkeit verunsichert zu sehr. Sie macht Angst, ist zu viel Nichts für uns. Der Mensch braucht Boden unter den Füssen. Auf diesen baut er gern auch sein Häuschen, mit Vorratskeller, Blitzschutzanlage und Hausratversicherung. Sich wappnen für die Zukunft gibt das beruhigende Gefühl, ihr nicht gänzlich ausgeliefert zu sein. Fast schon zu wissen, wie der Hase läuft.
Keine Ahnung
Das ist vorbei. Wir erleben, dass wir keine Ahnung haben. Auch diese hat uns die weltumspannende Seuche genommen. Sie ist vor zwei Jahren – so kurz ist diese Ewigkeit her! – über uns hereingebrochen und hat erschüttert, was war und was hätte sein können. Natürlich gab es ein paar Warner und Wahrscheinlichkeiten, dass so etwas eintreffen könnte. Aber doch nicht jetzt. Nicht hier. Nicht überall. Sicher nicht für mich.
Doch genau so kam es. Am 31. Dezember 2019 meldete China den Ausbruch einer mysteriösen Lungenkrankheit, einen Namen hatte sie noch nicht. Die Ausblicke der Medien an exakt diesem Tag handelten von allerlei, was die anbrechenden Zwanzigerjahre prägen könnte. Blick setzte auf digitale Revolution, Klimawandel und China. Als Weltmacht. Das kratzte zwei Monate später niemanden mehr, dafür kannte jeder den Tiermarkt von Wuhan. Wer also wäre ernst zu nehmen, der heute sagt, was 2022 kommen wird?
Völlig anders
Es ist schwer genug, sich Voraussagen für die Zukunft zu verkneifen. Noch schwerer auszuhalten ist, keine Erklärung für die Gegenwart zu haben. Mir ergeht es so: Ich verstehe nicht mehr, wie uns geschieht. Das unentzifferbare Jetzt treibt mich mehr um als das unberechenbare Morgen.
Letztes Jahr hatte ich gemeint: Eine Pandemie sei etwas Unverhandelbares, Undiskutables. Wenn eine Seuche alle bedroht, dann würden alle alles tun, um sie einzudämmen und zu beenden. Es gäbe nichts Wichtigeres. Die fremdbestimmte Ausnahmesituation zusammen überwinden, damit jeder und jede wieder selbstbestimmt leben kann. Die jedenfalls, die überleben.
Dieses Jahr hatte ich gemeint: Wir alle seien erleichtert, als die herbeigesehnte Impfung Tatsache wurde. Wir seien dankbar, dass wir uns nun auf die bestmenschenmögliche Art schützen können. Wir seien stolz auf unsere Spezies, die in so kurzer Zeit zu einer solch herausragenden Leistung fähig ist.
Manches mehr hatte ich gemeint, und bei alledem, es handle sich um gesunden Menschenverstand. Es kam anders.
So weit sind wir nun
Wir keifen über Masken, Massnahmen, Booster, Bundesratsentscheide. Wir erkennen nicht einmal die Lächerlichkeit, in einer Pandemie das Wort «Kantönligeist» auszusprechen. Geimpfte prahlen mit Selfies, Impfgegner feiern die Ignoranz. Alarmisten gegen Zuversichtliche, Besonnene gegen Beschöniger. Ärztinnen, die aus der Intensivstation heraus erschöpft an die Vernunft appellieren, werden von ihren künftigen Patienten verhöhnt. Laien belehren Wissenschaftler. Rücksichtslosigkeit heisst jetzt Widerstand. Demokratie wird als Diktatur verunglimpft, am Tag einer Volksabstimmung. Freiheit ist zur Faktenfreiheit geschrumpft, Sturheit zur Skepsis geadelt. Und noch der kleinräumigste Gedanke hält sich für eine Weltanschauung.
Die Pandemie rief nach Gemeinsinn, und es kam der Irrsinn.
Ich verstehe wirklich nicht, wie wir dahin gekommen sind. Irgendwie kommen wir da raus, bloss weiss niemand wie und wann. Keine Prognosen, keine Prophezeiungen.
Eine Wimper für die Zukunft
Zum Glück gibt es dennoch Möglichkeiten, uns an die Zukunft zu wenden. Auf stille, zurückhaltende Weise: hoffen, träumen, wünschen.
Eine besonders zärtliche ist jene, von der Eltern ihren Kindern erzählen: Wenn dir eine Wimper ausfällt, lege sie auf einen Finger, flüstere dir einen Wunsch zu, ganz leise, damit ihn niemand hört, und puste die Wimper weg. So geht dein Wunsch vielleicht in Erfüllung.
Es ist ein Aberglaube. Doch er erscheint mir nicht irrationaler als vieles, das derzeit geschieht. Und schöner ist es allemal: sich vorzustellen, dass wir heute in der Silvesternacht viele sind, die sich sehr Ähnliches wünschen. Die Kleinen tuns mit einer Wimper, die Grossen mit Champagner.