Kommentar von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die Normalität ist Putins grösster Verbündeter

Alle sehnen sich nach Normalität. Putin versucht dieses Bedürfnis auszunutzen. Es darf ihm nicht gelingen.
Publiziert: 25.12.2022 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 25.12.2022 um 14:26 Uhr
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Schauspielerin Demi Moore und der Schweizer Starkoch Daniel Humm sind nicht mehr zusammen. Die Welt sehnt sich nach solchen Meldungen und damit einer normalen Welt.
Foto: DUKAS
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Angelina Jolie nimmt die Romanze von Brad Pitt mit Ines de Ramon gelassen hin. Demi Moore hat sich vom Schweizer Starkoch Daniel Humm getrennt. Julia Roberts ist die erfolgreichste Schauspielerin aller Zeiten.

Russland wähnt sich in einer epochalen Auseinandersetzung mit dem Westen. Trotzdem versorgt – nebst vielen anderen Kreml-nahen Medien – ausgerechnet das Onlineportal von Putins Lieblingszeitung «Komsomolskaja Prawda» seine Leserschaft praktisch täglich mit neuen Meldungen aus Hollywood. Neben Hass auf die Ukraine gibts Lobeshymnen auf Ethan Coen.

So absurd dies klingt, die Illusion von Normalität ist ein wesentlicher Bestandteil von Putins Propaganda. Bis vor dem Krieg bildeten Hollywoodfilme die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle für die russischen Kinos. Nach dem 24. Februar zogen sich die US-Verleiher zurück, doch bislang ist jeder Versuch des Regimes gescheitert, diese Lücke durch heimisches Schaffen zu schliessen. So lässt man den Untertanen wenigstens einen letzten Rest der alten Freuden.

Der Wunsch nach Normalität ist Putins grösster Verbündeter. Der Politikwissenschaftler Kirill Rogow sagte neulich dem russischen Exilportal «Meduza»: «Die Mehrheit der Menschen würde sich nie ins Lager der Opposition schlagen. Damit ruinierst du nur deine Karriere und deine Perspektiven. Für diese Mehrheit sind Fragen der Politik weniger wichtig als das Ideal eines ‹normalen› Lebens.»

Kann sich der Schlächter Putin also noch lange halten? Trotz seines irrsinnigen Kriegs, trotz Zehntausender toter russischer Soldaten, trotz Wirtschaftskrise und grassierender Armut? Michail Chodorkowski, ehemaliger Oligarch und einst prominentester Häftling Russlands, rechnet damit, dass Putin bis zu den Wahlen 2024 Staatschef bleiben wird. In einem «Handbuch für beginnende Revolutionäre», das er ins Internet gestellt hat, schreibt der in London lebende Oppositionelle: «Putin wird zu einer Belastung für seine Kollegen und zum Rücktritt gezwungen.» Mit dem Putinismus jedoch müsse es deswegen keineswegs ein Ende haben. «Es ist nicht auszuschliessen, dass nach Putin eine noch schlimmere Version von ihm an die Macht kommt. Und das kann mehrmals geschehen. Das bolschewistische Regime, dessen Zusammenbruch seine Gegner ständig vorausahnten, dauerte fast 70 Jahre.»

Das hört sich düster an. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer, für die Russinnen und Russen, für uns alle. Trotzdem dürfen wir uns davon nicht beirren lassen. Der Wunsch nach Normalität ist Putins grösster Verbündeter – was für Russland gilt, trifft ebenso für den Rest der Welt zu. Mit dem Empfang des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in Washington haben die USA diese Woche gezeigt, dass sie diesem Verlangen widerstehen. Im Gegensatz dazu geben Politiker wie der deutsche Kanzler Scholz und der französische Präsident Macron Putin immer wieder Grund zur Annahme, er müsse bloss weiteren Schaden und Chaos anrichten – die Ukraine und der Westen könnten dann bereit sein, seine Forderungen zu akzeptieren, um einen Waffenstillstand zu erreichen.

Von der Schweiz ist da noch gar nicht die Rede. Mit dem Verweis auf die Neutralität liefert Bern keine Waffen, keine Helme, keine Schutzwesten nach Kiew. Dass der Bund aber selbst bei der humanitären Hilfe hinter anderen Staaten zurückliegt, lässt sich natürlich nicht mit der Neutralität erklären. Diese fatale Zurückhaltung dürfte ihre Ursache unter anderem im hierzulande besonders ausgeprägten Bedürfnis nach Normalität haben.

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