Der ehemalige Leiter des ARD-Studios Neu-Delhi, Markus Spieker, hat ein Buch namens «Übermorgenland» veröffentlicht (Fontis Verlag, Basel). Darin empfiehlt er uns, Abschied zu nehmen von der Illusion der Überlegenheit des Westens. Stattdessen sollen wir uns demütig dem härter werdenden Wettbewerb stellen, bei dem Asien mittelfristig die «Nase vorne» habe.
Für Spieker sind Krisen durch Wohlstandsverluste unvermeidlich, die Totalumstellung auf «digital, global» werde den Optimierungs- und Anpassungsdruck weiter erhöhen, was nur bewältigt und kompensiert werden könne durch einen starken Westen, durch Familienbindungen, Heimatbewusstsein, Religiosität.
Imperialistisch, rassistisch, patriarchal
Spieker prophezeit auch für Europa eine Renaissance der Religion, infolge des «Absterbens positiver Zukunftserzählungen». Zwar gibt es in unserem Alltag aus Leistung und Konsum noch die Rede von universalen Werten und einem technisch bedingten Fortschritts-Optimismus, aber im Grunde glauben nur noch wenige an die Grösse der westlichen Kultur, sondern halten sie eher für imperialistisch, rassistisch und patriarchal.
Individuum gegen Kollektiv
Ich bin mit Spieker nicht überall einverstanden, aber das Buch lässt neu nachdenken über Grundsatzfragen: Was geschieht mit dem Westen, wenn er sich etwa den Chinesen anpasst, wenn er eine ökonomisch getriebene Gesellschaft sich selbst ausbeutender Leistungssubjekte anstrebt? Müssen wir unser Leben der Technik (Digitalisierung) oder den neoliberalen Märkten (Globalisierung) unterordnen? Herrscht ein Wirtschaftskrieg zwischen Weltmächten, die den Menschen zum Humankapital degradieren, zum Rädchen einer grenzüberschreitenden Maschinerie aus Optimierung und Glättung? Geben wir auf diesem Weg nicht genau das auf, was das Herzstück des Westens ausmacht: den Vorrang und Schutz des Individuums? Den Vorrang der Rechte und Würde des Einzelnen vor dem Kollektiv, vor «höheren» politischen oder wirtschaftlichen Interessen?
Wie immer wir zu diesen Fragen stehen, eines Tages könnte uns die Gefahr drohen, die schon Friedrich Dürrenmatt einmal so formuliert hat: «Eine Gesellschaft, die nur noch Waren und keine Werte mehr zu produzieren weiss, wirkt unglaubwürdig, appelliert sie an Werte.»
Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.