Katalonien-Konflikt: SonntagsBlick auf den Spuren von Carles Puigdemont
Wo alles begann

SonntagsBlick-Reporter Fabian Eberhard begab sich auf die Spuren des Separatistenführers Carles Puigdemont (54). Er landete in dessen Elternhaus in Amer, einem katalanischen Bergdorf, wo «Puigdi» als Volksheld verehrt wird.
Publiziert: 15.10.2017 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 21.09.2018 um 09:34 Uhr
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Carles Puigdemont (54) unterschreibt am 10. Oktober ein Dokument zur Unabhängigkeit.
Foto: Reuters
Fabian Eberhard aus Girona

100 Kilometer trennen die beiden Leben von Katalanen-Chef Carles Puigdemont (54). Den Tag hindurch kämpft er im Palast der Generalität in Barcelona für die Abspaltung von Spanien. Er ­telefoniert mit besorgten Staatspräsidenten, beantwortet Medienanfragen aus der ganzen Welt. Am Abend, wenn es dunkel wird, steigt er in seine Dienstlimousine und lässt sich wegfahren. Nach Girona, nach Hause zur Familie.

Die Provinz an der Costa Brava, der wilden Küste, ist eine Hochburg der Separatisten. Knapp 95 Prozent der Wähler sprachen sich für die Unabhängigkeit aus. In keiner anderen Gegend stimmten die Menschen so deutlich für die Loslösung von Madrid. Und nirgendwo sonst schlugen die ­spanischen Prügel-Polizisten so brutal zu wie in den Wahllokalen in Girona.

Schon als 16-Jähriger schwenkte Puigdemont die gelb-rot gestreifte Katalonien-Flagge

Spanien droht auseinanderzubrechen. SonntagsBlick reiste dorthin, wo alles angefangen hat: nach Amer – ein katalanisches Kaff am Fuss der Pyrenäen. In diesem 2000-Seelen-Dorf, eingepfercht zwischen Weinbergen und Olivenhainen, der Horizont eng begrenzt, ist Carles Puigdemont aufgewachsen. Von hier aus plante er sein Lebensprojekt: die Independència, die Unabhängigkeit. Schon als 16-Jähriger schwenkte er die Estelada, die gelb-rot gestreifte Katalonien-Flagge, die heute von fast jedem Balkon weht. Der alte Schneider von Amer hatte sie für ihn zusammengenäht.

In einer Konditorei, direkt neben dem mittelalterlichen Dorfplatz, kam Puigdemont 1963 auf die Welt. Hineingeboren in einen kalten Winter, in eine zehnköpfige Bäckerfamilie, in eine Kindheit geprägt vom faschistischen Diktator Francisco Franco.

Die Konditorei steht noch heute. Hinter der Kasse steht Anna, Puigdemonts Schwester. Sie verkauft ihre berühmten Capricis, eine Mandelgebäck-Spezialität. Angesprochen auf ihren Bruder, gibt sie sich wortkarg. «Wissen Sie, plötzlich kommen alle hierher, fragen mich über unsere Familie aus, machen Fotos.» Vor einigen Wochen habe sie deshalb beschlossen, nichts mehr zu sagen.

Andere Dorfbewohner sprechen gerne über den Aufsteiger vom Dorf. Fast jeder hat ­irgendetwas zu erzählen über «Puigdi», den Mann, der die grösste Staatskrise in Spanien seit Jahrzehnten ausgelöst hat. José Sanchez (71) erinnert sich, wie die Mutter seines Schwiegersohnes den heutigen Katalanen-Führer gehütet hat, damals, als dieser als Bub mit dem Dreirad über das Kopfsteinpflaster der engen Gassen geradelt ist. «Puigdi ist ein ehrlicher Politiker mit Prinzipien», sagt er.

Bis heute unterstützen ihn Wähler von ganz rechts bis zur linksradikalen CUP

Unabhängigkeitsgegner findet man in Amer keine. Nur Estefania Sanchez (26) ist sich nicht ganz ­sicher: «Ich bin neutral. Aber wenn die Loslösung von Spanien keine negativen Konsequenzen hat, bin ich dafür.» Den Präsidenten habe sie vor ein paar Jahren am Dorffest getroffen, «ein sympathischer Kerl».

Als junger Lokalpatriot zog es Puigdemont nach Girona. In der Stadt, nur wenige Kilometer entfernt von Amer, studierte er katalanische Philologie, reiste in ferne Länder, oft nach Südosteuropa, um im damaligen Jugoslawien Nationen ohne Staat zu studieren. Er schrieb Reisereportagen und gründete eine katalanische Propagandazeitung. Ein Schöngeist auf Krawallkurs. 2006 stieg er in die Politik ein, 2011 wählten ihn die Bewohner der 100 000-Einwohner-Stadt Girona zum Bürgermeister.

Damals schaffte es der Liberalkonservative, ideologische Gräben zuzuschütten. Bis heute unterstützen ihn Wähler von ganz rechts bis zur linksradikalen CUP. Der gemeinsame Nenner: das Streben nach Unabhängigkeit.

Auch die heutige Bürgermeisterin von Girona, Marta Madrenas (49), ist eine glühende Verfechterin eines katalanischen Staats. Die Justiz ermittelt gegen sie, eine bürgerliche Anwältin, weil sie das nach spanischem Verfassungsrecht illegale Referendum vom
1. Oktober aktiv unterstützt hat.

Madrenas empfängt SonntagsBlick im Rathaus von Girona. Wenige Meter weiter zwängt sich der Onyar durch die historische Altstadt, ein Fluss, an dessen Ufer auch im Oktober noch die Zikaden zirpen. Draussen ist es schwüle 26 Grad, das Büro der Bürgermeisterin ist auf 18 Grad heruntergekühlt. Arbeitstemperatur.

Als Erstes entschuldigt sich Madrenas für die Unordnung: «Es geht hier gerade alles drunter und ­drüber.» Das Verlangen nach Eigenständigkeit sei in Girona besonders gross, weil die Leute der Stadt «das Katalanentum mehr lieben und ­leben als überall sonst». Bis vor wenigen Jahrzehnten war das nicht möglich: Francos Verwaltungs­beamte unterdrückten die katalanische Kultur und die Sprache.

Rajoy gibt Puigdemont bis Montag Zeit

Laut der Bürgermeisterin steht der Konflikt jetzt am entscheidenden Punkt. «Wir sind zwar noch ­immer dialogbereit», versichert sie. Doch wenn Madrid weiterhin stur bleibe, gäbe es nur noch eine Lösung. Dann müssten die Katalanen einseitig die Unabhängigkeit ausrufen. Für diesen Fall droht der spanische Regierungschef Mariano Rajoy mit der «nuklearen Option». Er gibt Puigdemont Zeit bis morgen Montag. Falls sein Widersacher bis dann nicht nachgibt, will Rajoy den ­Verfassungs-Paragrafen 155 aktivieren. Es wäre die Eskalation, die sich seit Jahren anbahnt. Das Parlament in Barcelona würde unter Zwangsverwaltung gestellt, Puigdemont verhaftet. Madrenas hat Angst vor diesem Moment. Gut möglich, dass dann auch sie im Gefängnis landet. Um die verfahrene Situation zu lösen, brauche es nun internationale Mediatoren. Sie appelliert an die Schweiz: «Helft uns, als neutrales Land seid ihr prädestiniert, um zu vermitteln!» Tatsächlich steht das Aussendepartement (EDA) in Bern mit beiden Seiten in Kontakt. Doch bisher wehrt sich Madrid gegen jeden Kompromiss.

Die Stimmung bleibt aufgeheizt. Als am Freitagabend auf dem ­Unabhängigkeitsplatz in Girona ein Mann mit einer Spanienfahne provoziert, stimmt eine Gruppe von Jugendlichen in einer Bar spontan die katalanische Hymne an: «Der Feind soll zittern, wenn er unsere Fahne sieht», singen sie. Die Estelada, die gelb-roten Streifen, die von Tausenden Balkonen wehen.

Die Schweiz kann schlichten

Ein Kommentar von Gieri Cavelty, Chefredaktor

Der Katalonienkonflikt ist ein jahrhundetalter Geschichtsknäuel. Die Separatisten sprechen sogar von einem einzigen Strang der Unterdrückung. 1714 ist so ein Schlüsseljahr. Damals machten spanische Truppen Barcelona dem Erdboden gleich. Später hat Diktator Franco die Katalanen geknebelt. Freilich haben gerade die eifrigsten Anhänger der heutigen Unabhängigkeitsbewegung die Franco-Zeit nicht selbst erlebt – der Graben in Katalonien verläuft nicht zuletzt zwischen der tendenziell spanientreuen älteren Generation und der aufmüpfigen Jugend.

Ganz auf der anderen Seite steht der Partido Popular. In Katalonien hat die Partei von Ministerpräsident Mariano Rajoy tra­ditionell kaum Wähler. Umso rücksichtsloser kann der Premier auf die Einheit Spaniens drängen.

Die EU hütet sich, den gordischen Knoten lösen zu wollen. Die Union setzt sich aus Staaten zusammen, nicht aus Regionen. Die Schweiz dagegen braucht sich keine solche Zurückhaltung aufzuerlegen. Gewiss kann sie nicht ohne Einwilligung Madrids als Vermittlerin agieren. Ein denkbares, wünschbares Szenario wäre aber, wenn Brüssel hinter den Kulissen Druck auf Rajoy ausübt. Dann könnte unter Berner Gesprächsführung zumindest über mehr Autonomie für Katalonien verhandelt werden. Wann wären unsere Guten Dienste von grösserem Nutzen als in einem europäischen Konflikt? Klar ist: Die jetzige Situation ist kein Zustand.

Ein Kommentar von Gieri Cavelty, Chefredaktor

Der Katalonienkonflikt ist ein jahrhundetalter Geschichtsknäuel. Die Separatisten sprechen sogar von einem einzigen Strang der Unterdrückung. 1714 ist so ein Schlüsseljahr. Damals machten spanische Truppen Barcelona dem Erdboden gleich. Später hat Diktator Franco die Katalanen geknebelt. Freilich haben gerade die eifrigsten Anhänger der heutigen Unabhängigkeitsbewegung die Franco-Zeit nicht selbst erlebt – der Graben in Katalonien verläuft nicht zuletzt zwischen der tendenziell spanientreuen älteren Generation und der aufmüpfigen Jugend.

Ganz auf der anderen Seite steht der Partido Popular. In Katalonien hat die Partei von Ministerpräsident Mariano Rajoy tra­ditionell kaum Wähler. Umso rücksichtsloser kann der Premier auf die Einheit Spaniens drängen.

Die EU hütet sich, den gordischen Knoten lösen zu wollen. Die Union setzt sich aus Staaten zusammen, nicht aus Regionen. Die Schweiz dagegen braucht sich keine solche Zurückhaltung aufzuerlegen. Gewiss kann sie nicht ohne Einwilligung Madrids als Vermittlerin agieren. Ein denkbares, wünschbares Szenario wäre aber, wenn Brüssel hinter den Kulissen Druck auf Rajoy ausübt. Dann könnte unter Berner Gesprächsführung zumindest über mehr Autonomie für Katalonien verhandelt werden. Wann wären unsere Guten Dienste von grösserem Nutzen als in einem europäischen Konflikt? Klar ist: Die jetzige Situation ist kein Zustand.

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